Wie viel ist meine Arbeitskraft wert? Bei «self-set salaries» übernehmen die Mitarbeiter die Gehaltsverhandlungen In einer Berner Digitalagentur entscheiden alle gemeinsam, wer wie viel verdient. Sieht so das Lohnmodell der Zukunft aus?

In einer Berner Digitalagentur entscheiden alle gemeinsam, wer wie viel verdient. Sieht so das Lohnmodell der Zukunft aus?

 

Mehr Gehalt, bitte: Einen höheren Lohn zu fordern, ist einfach. Doch was, wenn man ihn vor all seinen Kollegen rechtfertigen muss? Bild: unsplash

«Wie viel möchtest du verdienen?» Wer diese Frage in seinem Freundeskreis stellt, wird als Antwort wohl Beträge genannt bekommen, die ins Unermessliche reichen. Wer würde sich schliesslich nicht über ein doppeltes, dreifaches oder gar zehnfaches Gehalt freuen?

Ganz anders sieht es aus, wenn man an der Frage ein kleines, aber wichtiges Wort ändert: «Wie viel solltest du verdienen?» Auf der Suche nach der richtigen Antwort kann man auf seine letzten Gehälter oder auf diejenigen von Kollegen verweisen – oder sich eine weitere, fast schon existenzielle Frage stellen: «Was bin ich als Arbeitskraft wert?»
 

Was passiert, wenn Mitarbeiter diese Frage nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Kollegen beantworten müssen, damit experimentieren immer mehr Unternehmen. Eines davon ist das Startup Zeilenwerk aus Bern. Vor ungefähr einem Jahr hat die Software-Agentur mit rund zwanzig Mitarbeitenden sogenannte «self-set salaries» eingeführt. Seitdem legen alle ihre Löhne selbst fest – und zwar gemeinsam.

Alle Entscheidungen werden im Team gefällt

«Wir haben immer alle Entscheidungen im Team getroffen – ausser bei den Löhnen. Das hat für uns nicht zusammengepasst», so erklärt der Co-Gründer Raphael Reber den Schritt. «Wir wollten ein Lohnsystem, das fair ist und mit dem alle zufrieden sind.»

Die Einführung des neuen Systems erfolgte schrittweise, Reber spricht von einer mehrjährigen «journey»: «Als wir unser Unternehmen 2014 gegründet haben, waren wir nur eine Handvoll Leute, die für ein relativ niedriges Gehalt gearbeitet haben. Seitdem sind wir stark gewachsen – und damit auch die Anforderungen an das Salär.»

Ein Einheitslohn kam für Zeilenwerk nicht infrage – zu gross waren irgendwann die Unterschiede zwischen den Mitarbeitern, etwa in Bezug auf Qualifikation, Alter und Dauer der Anstellung. Also führte man zunächst ein algorithmisches Lohnsystem ein, das Angestellte nach Faktoren wie Ausbildung und Berufserfahrung einstufte. Mit dem neuen System kam auch die Lohntransparenz: «Der Algorithmus hat schonungslos aufgedeckt, wer hart verhandelt hat», erzählt Reber. «Manch einer wäre dadurch tiefer eingestuft worden, als er oder sie sich selbst eingeschätzt hätte.»

Lohntransparenz kann zu unangenehmen Situationen führen

Solche für alle Beteiligten unangenehmen Situationen könnten bei der Einführung von transparenten Gehältern häufiger vorkommen, erklärt die Wirtschaftswissenschafterin Anna Sender. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Alexandra Arnold hat sie in einer Studie der Universität Luzern die Lohntransparenz in der Schweiz untersucht. «Niemand erfährt gerne, dass ein Kollege mit ähnlicher Qualifikation und vergleichbaren Aufgaben viel mehr verdient als man selbst. Das kann dann zu Konflikten und Unzufriedenheit führen. Diese können aber auch ein Ansporn für nötige Veränderungen sein.»

Senders Untersuchungen haben gezeigt: Rund ein Drittel der befragten Unternehmen gibt heute exakte Informationen darüber preis, wie viel die einzelnen Mitarbeiter verdienen. Die Firmen haben oft gar keine andere Wahl, glaubt die Forscherin: «Über Löhne wird heutzutage sowieso gesprochen. Dazu tragen auch Online-Plattformen wie Glassdoor und Payscale bei. Als Arbeitgeber davon auszugehen, dass die Mitarbeiter sich nicht austauschen, ist nicht realistisch.»

Vor allem Jüngere fordern Transparenz

Senders Studien haben aber auch gezeigt, was der gesunde Menschenverstand vermuten lässt: Die Bereitschaft, über Löhne zu sprechen, sinkt mit steigendem Gehalt. Nach wie vor sind es vor allem jüngere Mitarbeiter, die die Entwicklung vorantreiben. «Die jüngere Generation erwartet heute, dass über das Gehalt gesprochen wird. Und sie prägt den Arbeitsmarkt immer mehr.»

So wie bei Zeilenwerk. Das Durchschnittsalter der Mitarbeiter liege bei 31 oder 32 Jahren, schätzt Raphael Reber. Doch obwohl alle altersmässig nahe beieinanderliegen, wurde das eingeführte algorithmische Lohnsystem dem Anspruch einer fairen Bezahlung bald nicht mehr gerecht: Fähige Programmierer etwa, die viele erfolgreiche Projekte umsetzen würden, aber laut CV keine ausserordentlichen Qualifikationen aufweisen könnten, seien dabei durchs Raster gefallen.

Und so begann bei Zeilenwerk das Experiment, das heute noch andauert: die «self-set salaries». Benefits, wie etwa vergünstigte Fitness-Abos, wurden gestrichen, um sich vollständig auf die Löhne zu fokussieren – die Mitarbeiter sollen selbst entscheiden können, was sie mit ihrem Geld machen. Ende 2021 fand die erste Lohnrunde statt, vor wenigen Tagen wurde die neue Lohnliste für 2023 von der gesamten Firma verabschiedet. Der Prozess ist dabei jedes Mal derselbe:

  • Grundlage des Lohnsystems ist eine offene Buchhaltung. Da Zeilenwerk eine Service-Agentur ist, machen die Lohnkosten 86 Prozent der gesamten Kosten aus. Dank offener Buchhaltung wissen alle Mitarbeiter, wie viel das Unternehmen erwirtschaftet und wie hoch das Budget für die Gehälter ist.
  • Auf Grundlage dieser Informationen sollen die Mitarbeiter schliesslich ihre Löhne festlegen. Sie verfassen ein Papier, in dem sie begründen, warum ihr gefordertes Gehalt gerechtfertigt ist und welche Ziele sie sich für die kommenden Monate setzen.
  • Anschliessend werden alle Vorschläge veröffentlicht und vom gesamten Team bewertet. In einem Online-Dokument können die Mitarbeiter Feedback zu den Forderungen geben, von «zu hoch» über «genau richtig» bis «zu tief». Ein moderierendes Dreierteam überwacht diesen Prozess und versucht, Konflikte in Einzelgesprächen zu lösen.
  • Schliesslich geben alle Mitarbeiter in einer zweiten Runde ihr angepasstes Lohnziel an. Wenn alle Vorschläge final sind, wird im gesamten Team darüber abgestimmt. Jeder Mitarbeiter hat dabei ein Vetorecht.

Dass die Gehälter nicht durch die endgültige Abstimmung gekommen sind, ist laut Reber bisher nicht passiert. Nach der ersten Runde seien die Löhne im Schnitt etwas gestiegen, allerdings in einem Rahmen, der vertretbar sei. «Die Leute haben verinnerlicht, was das Businessmodell der Firma ist und dass sie gemeinsam den Lohn erwirtschaften müssen, den sie fordern. Wir sind alle Unternehmerinnen und Unternehmer.»

Autonomie erhöht die Motivation

Mit «self-set salaries» das unternehmerische Denken der Mitarbeiter zu fördern, ist das erklärte Ziel der Zeilenwerk-Gründer. Wenn jeder weiss, wie viel er erwirtschaften muss, um das eigenen Gehalt zu finanzieren, verändert sich auch das eigene Verhältnis zur täglichen Arbeit, so die Überlegung.

Dass selbstgewählte Saläre die Motivation erhöhen, konnte laut Anna Sender zumindest in Laborversuchen bereits nachgewiesen werden: Wenn Personen den Lohn oder das System, nach dem sie bezahlt wurden, selbst wählen konnten, zeigten sie mehr Einsatz bei der Erledigung von Aufgaben. «Mitbestimmung bei Gehältern erhöht die wahrgenommene Autonomie», erklärt Sender. «Das kann dazu führen, dass Mitarbeiter mehr leisten.»

Doch nicht nur deswegen können Unternehmen von selbstgewählten Salären profitieren. «Wir befinden uns im ‹war for talents› in direkter Konkurrenz zu grossen Tech-Unternehmen wie Google, Microsoft oder IBM», erklärt Raphael Reber. «Durch unser Lohnsystem können wir uns bei der Rekrutierung hervorheben.»

Je kleiner das Unternehmen, desto einfacher

Gerade bei jüngeren Arbeitnehmern können Unternehmen, die Transparenz und Mitbestimmung bieten, punkten. Doch «self-set salaries» beinhalten einige Herausforderungen. «Sowohl Mitarbeitende als auch Unternehmen wollen, dass die Gehälter fair sind», sagt Anna Sender. Doch Lohnsysteme sind oft komplex, sie berücksichtigen neben der Schwierigkeit der Arbeit und der Qualifikation der Mitarbeiter etwa auch die Lage am Arbeitsmarkt. «Damit die Mitarbeitenden mitentscheiden können, dürfen die Lohnsysteme nicht zu kompliziert sein. Das ist in kleinen Unternehmen oft einfacher.»

Und wenn die Mitarbeiter gemeinsam entscheiden, muss das Team einen guten Überblick darüber haben, wer wie viel geleistet hat – auch das ist fast nur in kleineren Unternehmen möglich. Eine mögliche «Vorstufe» zu einem solchen System wäre aber, Mitarbeiter eines Teams darüber abstimmen zu lassen, wie etwa die Bonuszahlungen aufgeteilt werden sollten.

Unternehmen, die mit neuen Lohnmodellen experimentieren wollten, sollten vorher evaluieren, ob ihre Mitarbeiter überhaupt so viel Transparenz und Mitbestimmung möchten, sagt Sender. «Viele Unternehmen, die vollständige Lohntransparenz eingeführt haben, sind diesen Schritt bereits bei ihrer Gründung gegangen. Die Mitarbeiter haben gewusst, dass sie sich für ein solches System entscheiden.» Nicht bei jedem ist der Wille, über Geld zu sprechen, gleich stark vorhanden. Durch Umfragen können Firmen herausfinden, welcher Weg für sie der richtige ist.

Ein Lohnband in Stelleninseraten angeben

Als Alternative zu «self-set salaries» und/oder vollständiger Lohntransparenz schlägt Sender Transparenz in Bezug auf die Prozesse vor, nach denen die Löhne zustande kommen. Ein solch verhältnismässig kleiner Schritt kann bereits einen gewissen Einfluss auf die Autonomie der Mitarbeiter haben: «Wenn ich weiss, welche Faktoren meinen Lohn bestimmen, kann ich an diesen Faktoren ansetzen, um ihn zu erhöhen.»

Für Unternehmen kann das oft bedeuten, dass sie zunächst einmal ihr Lohnsystem überprüfen und anpassen müssen. Welche Einflussfaktoren bestimmen die Gehälter meiner Mitarbeiter in welchem Ausmass? Und wo gibt es Unstimmigkeiten? «Transparenz führt dazu, dass das bestehende System durchdacht und hinterfragt wird. Das kann ein langer Prozess sein», sagt Sender.

Eine weitere Möglichkeit ist es, Lohnbänder anzugeben. Laut Senders Forschung machen das in der Schweiz momentan etwa 40 Prozent der Unternehmen. «Das ist ein Schritt, den man wagen könnte, auch als Signal der Offenheit an die Mitarbeitenden.» Einige Unternehmen experimentieren auch damit, Lohnbänder bereits in Stelleninseraten anzugeben. Darunter die Swisscom: Während hierzulande erste Tests durchgeführt werden, verweist eine Sprecherin im Gespräch mit dem Nachrichtenportal «Watson» auf die Niederlassungen in Riga und Rotterdam, wo die Lohnbandbreite schon seit längerem in Inseraten aufgeführt werde. Andere Länder sind noch weiter: Im angelsächsischen Raum ist es schon lange üblich, das Gehalt in Stelleninseraten anzugeben, in New York etwa ist das seit diesem Monat sogar gesetzliche Vorschrift.

Mit der Angabe von Lohnbändern begnügt sich zumindest im Gespräch auch Zeilenwerk. 35 bis 40 Prozent betrage die Spanne zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Lohn, sagt Raphael Reber. Unterschiede seien vor allem in der Tätigkeit der Mitarbeitenden begründet sowie in ihrer Berufserfahrung. Nennenswerte Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen gebe es hingegen nicht. Ob sich diese Bandbreite noch verkleinert, wird sich bei der nächsten Lohnrunde zeigen – und auch, ob die Salärkosten für Zeilenwerk weiter steigen. Raphael Reber rechnet nicht damit.

Nelly Keusch, «Neue Zürcher Zeitung»

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