Bremsfaktor Wohlstand: Frauen überholen die Männer bei der Bildung, aber nicht beim Gehalt Die Schweiz hat bei der Gleichstellung aufgeholt. Dennoch gibt es deutliche Unterschiede in den Lebensrealitäten von Männern und Frauen. Viele sind bewusst gewählt. In andere rutschen Eltern zuweilen ungewollt hinein.

Die Schweiz hat bei der Gleichstellung aufgeholt. Dennoch gibt es deutliche Unterschiede in den Lebensrealitäten von Männern und Frauen. Viele sind bewusst gewählt. In andere rutschen Eltern zuweilen ungewollt hinein.

(Bild: Christina @ wocintechchat.com auf Unsplash)

Frauen und Männer leben in der gleichen Welt – doch die Unterschiede bei Bildung, Berufswahl, Einkommen und Familienarbeit sind beträchtlich. Das zeigen am Dienstag veröffentlichte Daten zur Gleichstellung von Frau und Mann in der Schweiz.

Bei der Bildung haben die Frauen nicht nur aufgeholt, sondern die Männer sogar überholt. Bei den 25- bis 34-Jährigen hatten im Jahr 2022 53 Prozent der Frauen und 50 Prozent der Männer einen Tertiärabschluss. 22 Jahre vorher – im Jahr 2000 – rangierten die Frauen mit Hochschulabschluss mit 17 Prozent noch deutlich hinter den Männern, bei denen der Anteil damals bei 34 Prozent lag.
 

«Dass die Männer in der Bildung zurückfallen, finde ich nicht positiv», kommentiert Katja Rost, Ordinaria für Soziologie an der Universität Zürich. Es sei ein Rätsel, warum die Frauen die Männer in der Bildung überholten. Die Soziologieprofessorin fürchtet, dass dies einer gesellschaftlichen Polarisierung Vorschub leistet. In den USA sei das Phänomen besonders eklatant.

Man müsse sich fragen, warum die Jungen schulisch weniger erfolgreich seien als die Mädchen. Zur Gleichberechtigung gehört für sie auch, dass die Männer keine Nachteile erleiden müssen. «Da tut sich eine grosse Debatte auf, die die Gleichstellungsbüros noch nicht erkannt haben», meint Rost.

Berufswahl bleibt traditionell

Deutlich weniger geändert haben sich gemäss dem Datenüberblick hingegen die Berufswahlentscheide. Noch immer wählen junge Frauen bevorzugt klassische «Frauenberufe» und Männer «Männerberufe». So sind junge Frauen in Berufsausbildungen und Studiengängen des technischen Bereichs untervertreten. Umgekehrt entscheiden sich nur wenige Männer für Ausbildungsgänge des Gesundheits- und Sozialwesens.

«Dass die Karrierewünsche geschlechtsspezifisch sind, hat in der Schweiz viel mit Wohlstand zu tun», sagt Rost. Die Gleichstellung fordere zwar immer wieder, dass Frauen Karriere machten und technische Fächer studierten. «Das ist aber für sie nur eine von vielen Möglichkeiten.»

Der Arbeitsmarktexperte Marco Salvi von Avenir Suisse weist darauf hin, dass die berufliche Durchmischung dennoch zugenommen habe. Die bessere Bildung führe mehr Frauen in gut- oder hochbezahlte Jobs. Das Paradebeispiel sei der Arztberuf. «Hier hat es in den letzten 25 Jahren eine massive Feminisierung gegeben.»

Eine Annäherung fand auch bei der Erwerbstätigkeit statt. Vor 30 Jahren waren 66 Prozent der Frauen und 90 Prozent der Männer erwerbstätig. Heute sind mit 77 Prozent deutlich mehr Frauen erwerbstätig; bei den Männern ist der Anteil etwas gefallen, auf 84 Prozent.

Dennoch sind egalitäre Erwerbsmodelle, bei denen entweder beide Partner Vollzeit oder Teilzeit arbeiten, immer noch selten. Bei Paaren mit Kindern unter 12 Jahren ist dies nur bei knapp einem Viertel der Fall. Komplementär zum Erwerbspensum ist die Hausarbeit weiterhin unterschiedlich verteilt. Lediglich bei rund einem Viertel der Paare mit Kindern wird sie von beiden erledigt.

Der Arbeitsmarktökonom Michael Siegenthaler von der ETH weist darauf hin, dass gemäss den Daten selten der Mann zu Hause bleibe, wenn ein Kind krank werde. Die Forschung zeige hier einen klaren Zusammenhang mit der Karriereentwicklung. Für erfolgreiche Karrieren sei in vielen Branchen ein 100-prozentiger Einsatz gefordert, inklusive einer umfassenden Erreichbarkeit, Reisetätigkeit und Arbeitszeiten von morgens bis spätabends, etwa für Treffen mit Kunden.

Das sei mit Care-Arbeit zu Hause kaum zu vereinbaren, bzw. es werde schnell konfliktreich. Es seien wohl auch solche Paarkonflikte, die dazu führten, dass viele Eltern, die eigentlich egalitär leben wollten, am Ende doch in die traditionelle Rollenverteilung hineinrutschten, so Siegenthaler.

Dennoch warnt die Soziologieprofessorin Katja Rost vor einer generellen Klage über eine vermeintlich rückständige Schweiz. «Es wird immer wieder so dargestellt, dass die Frauen ein Opfer dieser Aufteilung seien», kritisiert Rost. Es sei aber ein Rollenmodell, das vielen Menschen entspreche. Gerade in einem wohlhabenden Land sei Karriere oft nicht der einzig mögliche Lebensweg. Wenn man kein oder nicht so viel Geld verdienen müsse und Zeit mit seinen Kindern verbringen wolle, sei das ein emanzipierter Entscheid. «Daran können sich die Gleichstellungsbüros so hart reiben, wie sie wollen.»
 

Salvi von Avenir Suisse sieht die Rollenaufteilung als das Ergebnis eines Zusammenspiels von individuellen Entscheidungen und der Möglichkeiten, die Frauen und Männern zur Verfügung stehen. «Mit einer weiteren Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt könnte es deshalb schwierig werden.»

Beide Geschlechter sind in der Schweiz gemäss einer Studie von Avenir Suisse mit einer Arbeitszeit von durchschnittlich 53 Stunden gleich beschäftigt, wobei die Frauen mehr Familienarbeit und die Männer mehr Erwerbsarbeit leisteten.

Die Wirtschaftsprofessorin Margit Osterloh weist darauf hin, dass viele Frauen mit Kindern auch dann bei einer Teilzeittätigkeit blieben, wenn die Kinder gross seien. Das sei keine Frage der Diskriminierung, sondern der persönlichen Lebensführung.

Grosse Unterschiede bei der Rente

Das tiefere Einkommen bzw. die tiefere Erwerbstätigkeit führt dazu, dass die jährliche Gesamtrente der Frauen um 17 293 Franken tiefer ist als diejenige der Männer. Das entspricht einem Rentenunterschied von 33 Prozent.

Erstaunlicherweise ist die Lücke in Frankreich, wo Vollzeit-Erwerbstätigkeit von Frauen viel verbreiteter ist, gemäss den Angaben mit 30 Prozent nicht wesentlich kleiner. Auch in Deutschland beträgt der Rentenabstand 30 Prozent. In Italien und Österreich, beide nicht bekannt als Vorreiter der beruflichen Gleichstellung, ist der Unterschied mit 31 bzw. 36 Prozent geringfügig höher als in der Schweiz.

Die Wirtschaftsprofessorin Margit Osterloh warnt vor diesem Hintergrund vor einer mangelnden finanziellen Voraussicht mancher Frauen. Teilzeit arbeitende Frauen bauten eine viel geringere Pension auf. Im Fall einer Scheidung trügen sie deshalb ein wesentlich grösseres finanzielles Risiko.

Tatsächlich betrifft Armut ab 65 Jahren die Frauen in der Schweiz mit 18 Prozent stärker als die Männer mit 13 Prozent. Betroffen sind vor allem geschiedene und getrennte Frauen, bei denen die Lücken in der Erwerbstätigkeit nicht mit dem gemeinsamen Haushaltseinkommen aufgefangen werden.

Christin Severin, «Neue Zürcher Zeitung»

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