Geplante Neuregelung zu Mindestlöhnen verärgert Linke und Kantone Bestimmungen in für allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen sollen nach dem Willen des Parlaments künftig Vorrang haben vor kantonalen Mindestlöhnen. Bei der Linken und den Kantonen stösst der Plan auf heftige Kritik, wie die Vernehmlassung zeigt. Der Bundesrat empfiehlt seinen eigenen Vorschlag zur Umsetzung der Idee zur Ablehnung.
Bestimmungen in für allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen sollen nach dem Willen des Parlaments künftig Vorrang haben vor kantonalen Mindestlöhnen. Bei der Linken und den Kantonen stösst der Plan auf heftige Kritik, wie die Vernehmlassung zeigt. Der Bundesrat empfiehlt seinen eigenen Vorschlag zur Umsetzung der Idee zur Ablehnung.
Hintergrund ist eine Motion des Obwaldner Mitte-Ständerats Erich Ettlin, die National- und Ständerat im Jahr 2022 guthiessen. Demnach sollen Bestimmungen allgemeinverbindlich erklärter Gesamtarbeitsverträge (GAV) zum Mindestlohn anderslautenden Bestimmungen der Kantone vorgehen. Dies auch dann, wenn die minimalen Löhne in einem GAV tiefer sind als der kantonale Mindestlohn.
Die heutige Lage sei eine Belastungsprobe für die Sozialpartnerschaft, begründete Ettlin das Vorhaben. Der Bundesrat stellte sich bereits damals dagegen – musste nach der Annahme der Motion jedoch einen Umsetzungsvorschlag machen. Bis zum 1. Mai konnten sich interessierte Kreise dazu äussern.
«Kompetenzordnung aushebeln»
Konkret schlägt die Landesregierung vor, das Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen zu ändern. Neu könnten in Gesamtarbeitsverträgen Bestimmungen über Mindestlöhne für allgemeinverbindlich erklärt werden, auch wenn sie zwingendem kantonalem Recht widersprechen.
An seiner Haltung hat der Bundesrat indes nichts geändert. In der Medienmitteilung zur Vernehmlassungseröffnung forderte er das Parlament explizit auf, die Vorlage nicht anzunehmen. Ein GAV verfüge nicht über die gleiche demokratische Legitimation wie ein kantonales Gesetz, gab Wirtschaftsminister Guy Parmelin bereits in den Parlamentsdebatten über die Motion Ettlins zu bedenken.
«Mit der Realisierung des Anliegens des Motionärs würde der Bundesgesetzgeber den Volkswillen auf Kantonsebene, föderalistische Prinzipien und die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung aushebeln», schrieb der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Vorstoss.
Referendum steht im Raum
Kantonale Mindestlöhne kennen derzeit die Kantone Genf, Neuenburg, Jura, Basel-Stadt und Tessin. In mehreren anderen Kantonen sind entsprechende Entscheide hängig. In Zürich und Winterthur sprachen sich die Stimmenden 2023 für städtische Mindestlöhne aus, in Kraft sind diese jedoch noch nicht.
Die Kampagnen für kantonale Mindestlöhne wurden unter anderem von den Gewerkschaften getragen. Entsprechend gross ist bei ihnen die Kritik an der geplanten Gesetzesänderung.
«Wenn dieses Gesetz wirklich so kommt wie von National- und Ständerat vorgesehen, dann ergreifen wir das Referendum», sagte der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), der Waadtländer SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard, dem Bieler Tagblatt vom Donnerstag.
Die kantonalen Mindestlöhne seien so angelegt, dass sie das Existenzminimum garantierten, betont der SGB in seiner Vernehmlassungsantwort. Die Gesetzesänderung würde dazu führen, dass Arbeitnehmende wieder Löhne unter dem Existenzminimum erhielten: «Die Erwerbsarmut würde ansteigen». Einer gelernten Coiffeuse im Kanton Genf würde eine Umsetzung der Motion Ettlins eine Lohneinbusse von bis zu 500 Franken im Monat bringen, rechnet der SGB vor.
Umgehung von Mindestlöhnen
Der Gewerkschaftsdachverband Travailsuisse warnt vor einem gefährlichen Präzedenzfall, wenn Branchenregelungen zwingendes Recht und den Wählerwillen übersteuern können. Travailsuisse hebt zudem hervor, in erster Linie zielten gesetzliche Mindestlöhne auf Branchen ohne Gesamtarbeitsvertrag. In Branchen mit allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträgen lägen die minimalen Löhne mit sehr wenigen Ausnahmen höher als der gesetzliche Mindestlohn.
Unterstützung erhalten die Gewerkschaften von der Linken. Die SP vertritt die Meinung, der Bundesrat hätte von sich aus beantragen müssen, die Motion abzuschreiben. Denn das Vorhaben verstosse gegen das Legalitäts- und das Subsidiaritäts-Prinzip in der Bundesverfassung. Eigentlich seien Gesamtarbeitsverträge kantonalen Gesetzen in der Normenhierarchie klar untergeordnet, betonen auch die Grünen.
«Umfassender Eingriff»
Die verfassungsrechtlichen Bedenken beschränken sich nicht auf die Linke. Kritik kommt auch vonseiten der Kantone. Die Konferenz der kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren moniert, dass Volksentscheide mit der Gesetzesänderung übersteuert würden.
Die mehrheitlich bürgerliche Berner Kantonsregierung schreibt in ihrer Stellungnahme zwar, man stehe Mindestlöhnen kritisch gegenüber. Unabhängig davon erachte der Regierungsrat die vorgesehene Gesetzesänderung als ungeeignet, da sie in die Kompetenzen der Kantone in der Sozialpolitik eingreife.
Die Urner Regierung hält das Vorhaben für unverhältnismässig: Spannungen in einzelnen Gesamtarbeitsverträgen vermöchten keinen umfassenden Eingriff in die kantonale Souveränität zu rechtfertigen.
Aus Sicht der Zuger Kantonsregierung ist der Vorschlag des Bundesrats zudem nicht praxistauglich: Es sei für Unternehmen und Arbeitnehmende verwirrend, wenn am gleichen Ort parallele und sich widersprechende Gesetze gälten.
Bürgerliche dafür
Der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) widerspricht der Ansicht, die geplante Gesetzesänderung sei verfassungswidrig, wie er der Nachrichtenagentur Keystone-SDA auf Anfrage mitteilte.
Der Arbeitgeberverband argumentiert, der Bund verfüge über eine umfassende Gesetzgebungskompetenz, was das Verhältnis zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite angehe. Indem er einen GAV für allgemeingültig erkläre, mache er davon Gebrauch. Die Kantone dürften dann keine Regelungen mehr erlassen, die den Geltungsbereich jenes Gesamtarbeitsvertrags beträfen.
«Die Sozialpartner kennen die Branchen am besten und können so ausgewogene Lösungen für Branchenanliegen und -besonderheiten in einem Gesamtpaket zusammenschnüren», gibt der Verband weiter zu bedenken.
FDP will einheitliche Standards
Es sei entscheidend, dass gesamtschweizerische Vereinbarungen sowohl für Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber gälten und nicht durch regionale Regelungen untergraben werden könnten, findet auch die FDP: «Dies schafft einheitliche Standards und faire Bedingungen für alle Beteiligten.»
Die SVP unterstützt grundsätzlich die Umsetzung der Motion Ettlins, anerkennt in ihrer Vernehmlassungsantwort aber den Konflikt mit den Kompetenzen der Kantone.
Etllins eigene Partei, die Mitte, nahm an der Vernehmlassung nicht teil. Bei den Abstimmungen im Parlament über den Vorstoss habe die Fraktion diesen mehrheitlich unterstützt, sagte Mediensprecherin Simone Rubin.