Haben die Corona-Massnahmen uns vielmehr gekostet, als sie genützt haben? Zwei Professoren kommen zu einem vernichtenden Schluss Muss die Schweiz ihre Geschichte umschreiben? Die Kosten der Corona-Massnahmen in der Schweiz seien etwa zehnmal so hoch gewesen wie der Nutzen, sagen Professoren der Universität Basel. Die Berechnungsmethode ist aber höchst zweifelhaft.

Muss die Schweiz ihre Geschichte umschreiben? Die Kosten der Corona-Massnahmen in der Schweiz seien etwa zehnmal so hoch gewesen wie der Nutzen, sagen Professoren der Universität Basel. Die Berechnungsmethode ist aber höchst zweifelhaft.

 

Das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Corona-Massnahmen ist bis heute unklar. (Bild: unsplash.com)

Die Pandemie ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Das liegt nicht nur am Ukraine-Krieg, sondern auch an Erfreulichem: Auch nach den Öffnungen von Anfang April sind in der Schweiz die gemeldeten Ansteckungen rückläufig. Die Positivitätsraten der Tests, die Abwasserproben und die Spitalbelegung bestätigen den Abwärtstrend.

Explosiv ist dagegen ein Befund von zwei Professoren der Universität Basel. Günther Fink (Epidemiologie und Haushaltsökonomie) sowie Stefan Felder (Gesundheitsökonomie) rechneten Anfang April in einem NZZ-Gastbeitrag vor, dass – gemessen an verlorenen und geretteten Lebensjahren – die Kosten der Corona-Massnahmen in der Schweiz zehnmal so hoch gewesen seien wie der Nutzen. Seither haben die Autoren noch ein Papier nachgeliefert. Die Kosten-Nutzen-Einschätzung ist nicht nur für das Geschichtsbuch wichtig: Es ist gut möglich, dass in Zukunft wieder ähnliche Güterabwägungen zu machen sind.

Kritiker der Corona-Politik werden sich durch die Basler Rechnungen bestätigt fühlen. Die Ergebnisse widersprechen fundamental den früheren Abschätzungen der wissenschaftlichen Begleitgruppe des Bundes. Die beiden Basler Professoren stützen ihre Rechnungen auf eine «repräsentative» Online-Umfrage des Instituts Link vom Februar 2022 bei rund 1200 Personen.

Gefühlter Wertverlust

Gemäss der Umfrage wären die Schweizer im Durchschnitt bereit, zum Beispiel für die Aufhebung des Verbots von privaten Feiern über 4000 Franken pro Monat bzw. über 60 Prozent des Monatseinkommens zu bezahlen, für die Aufhebung von Restaurantschliessungen über 40 Prozent des Einkommens und für die Aufhebung der Maskenpflicht immerhin noch 10 Prozent. Laut der Umfrage ist ein Lebensjahr mit Einschränkungen wie der Zwangsschliessung von Restaurants, Fitnesszentren, Veranstaltungen, Schulen und Landesgrenzen für die Einwohner im Mittel nur 30 Prozent so viel wert wie ein normales Lebensjahr. Auf der Basis solcher Antworten rechneten die Basler Professoren vor, dass die Corona-Einschränkungen in der Schweiz über 5,5 Millionen Lebensjahre gekostet, aber nur etwa 550 000 Lebensjahre gerettet hätten.

Dicke Post. Laut einem Papier der Autoren vom Februar zeigte die gleiche Art der Umfrage in fünf anderen Ländern ein zwar weniger drastisches, aber in der Stossrichtung ähnliches Ergebnis.

Einige Resultate der Schweizer Umfrage lassen schon in sich selbst grosse Zweifel aufkommen. So sagte fast die Hälfte der Befragten, dass ihnen ein Lebensjahr mit den obgenannten Einschränkungen überhaupt nichts wert sei. Laut den Autoren verändert ein Ausschluss der extremen Antworten an beiden Polen das Gesamtergebnis nicht entscheidend. Noch immer wären die Einschränkungen im Mittel der Befragten schlimmer als eine Querschnittlähmung – die gemäss der internationalen Forschungsliteratur einer Wertminderung des Lebens um durchschnittlich etwa 50 Prozent entsprechen mag.

Fragwürdig erscheint auch, dass die Leute über die Hälfte bzw. fast die Hälfte ihres Einkommens hergäben, um ein Verbot von Privatfeiern bzw. die Schliessung von Restaurants und Bars zu verhindern. Bei einem Einbruch des Einkommens um 40 bis 60 Prozent hätten viele Leute schon Mühe, Grundlegendes wie etwa die Wohnung und die Krankenkassenprämien zu bezahlen.

Die Fragen wurden ausdrücklich nicht mit Bezug auf die Pandemie gestellt. «Stellen Sie sich eine Welt ohne Covid-19 vor», heisst es zu Beginn eines zentralen Fragetyps. Danach musste man zwischen zwei Ländern mit bestimmtem Nettolohn und einem bestimmten Grad an Einschränkungen wählen. Aus den Antworten zu Vergleichen von solchen Ländertypen leiteten die Autoren die subjektiven Werte der Freiheiten ab.

Gedanklich in Nordkorea

«Die Fragen wurden ohne jeglichen Kontext gestellt», kritisiert der Lausanner Wirtschaftsprofessor Marius Brülhart, der Mitglied der wissenschaftlichen Corona-Begleitgruppe des Bundes war: «Wenn ich mir ein Land mit Verboten von Reisen, Restaurantbesuchen und Partys vorstellen muss, denke ich an ein totalitäres Regime wie Nordkorea. Dann gewichte ich das ganz anders als vorübergehende Einschränkungen in einer offenen Gesellschaft während einer Pandemie.»

Die Rechnungen lassen sich zudem nicht in Übereinstimmung bringen mit den regelmässigen Befragungen während der Pandemie zur Corona-Politik. So sagte von März 2020 bis Juli 2021 in sieben Umfragen des Instituts Sotomo eine meist deutliche Mehrheit, dass die Corona-Massnahmen angemessen seien oder zu wenig weit gingen. Auch die zwei Volksabstimmungen zum Covid-Gesetz brachten klare Ja-Mehrheiten.

Was sagen die Basler Studienautoren dazu? Der Co-Autor Stefan Felder deutet im Gespräch an, dass auch er die deklarierten Kosten der Einschränkungen zum Teil als hoch empfinde, aber das Ergebnis spiegle die Befragung. Deren Methodik ist laut Felder bei Gesundheitsthemen gängig. Und Umfragen mit direkter Illustration der Zielkonflikte durch Gegenüberstellung von zwei Alternativen seien aussagekräftiger als die allgemeinen Befragungen über die Corona-Politik. Man kann es aber auch andersherum sehen: dass den Leuten bei den Befragungen zur Corona-Politik die Zielkonflikte und der Kontext klarer bewusst waren als bei der Basler Erhebung.

All dies heisst nicht, dass der Nutzen der Corona-Massnahmen zwingend die Kosten überwog. Aber es heisst, dass es für die Herleitung eines gegenteiligen Befundes bessere Belege braucht.

Hansueli Schöchli, «Neue Zürcher Zeitung»

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