In der jüngsten Lohnumfrage der KOF gehen die Unternehmen für 2025 schweizweit von Nominallohnerhöhungen von 1,6 Prozent aus. Wenn die Inflation im kommenden Jahr auf 1 Prozent sinkt, wie es die KOF erwartet, würde ein bescheidener Reallohnzuwachs von 0,6 Prozent resultieren.
Nach- und aufgeholt ist damit noch nicht viel. Es wäre lediglich eine Normalisierung nach der Inflation und dem Rückgang des Reallohn-Indexes in den vergangenen drei Jahren.
Wie sieht es mit der Verteilung der Wertschöpfung zwischen den Unternehmen und den Arbeitnehmern aus? Die Lohnquote, also der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am BIP, liegt derzeit bei knapp 60 Prozent. Sie ist gemäss dem Arbeitsmarktökonomen Siegenthaler langfristig stabil geblieben beziehungsweise jüngst sogar leicht gestiegen. Das lasse darauf schliessen, dass die Löhne etwa mit der Wertschöpfung gewachsen seien. Das Bild ist also nicht ganz eindeutig.
Die Teuerung gibt den Ausschlag
Doch selbst sinkende Reallöhne bedeuten nicht zwingend, dass die Unternehmen mehr Geld horten. Daniel Kalt, Chefökonom der UBS, betont, dass die Unternehmensgewinne in wirtschaftlich schwierigen Phasen deutlich stärker unter Druck kämen. In den Jahren 2011/2012 sei das bei der massiven Frankenaufwertung der Fall gewesen. Derzeit leidet vor allem der Export unter der schwachen Nachfrage in Deutschland, während es der Binnenwirtschaft bessergeht. Die Ausschläge bei den Unternehmensgewinnen sind grösser als bei den Löhnen.
Spürbare Unterschiede gibt es dabei zwischen jenen Branchen, denen es gutgeht, und denjenigen, die stärker unter Druck sind. «Da ist das Bild sehr differenziert», stellt Kalt fest. Wer seinen Mitarbeitenden mehr zahlen kann, wird attraktiver. Hingegen gibt das Hinterherhinken anderer Branchen den Arbeitnehmern ein wichtiges Preissignal, um sich in Richtung besser zahlender Branchen zu orientieren.
So werden etwa in der Lohnrunde 2025 im Detailhandel, der als klassischer Tieflohnsektor gilt, gemäss KOF-Lohnumfrage lediglich Lohnsteigerungen von 1,1 Prozent erwartet. Die Margen der Unternehmen geben schlicht weniger her als in ertragsstärkeren Branchen wie der Informatik und Kommunikation (+1,8 Prozent), der Chemie (+1,7 Prozent) oder den Banken (+1,6 Prozent). Über die Jahre ergeben sich aus kleinen Differenzen spürbare Unterschiede.
Der Fachkräftemangel war kein starkes Faustpfand
Überraschend am Bild ist, dass die Arbeitnehmer in den letzten Jahren nicht stärker mit dem Faustpfand des Fachkräftemangels wuchern konnten. Dieser hat sich seit dem Höhepunkt im zweiten Quartal 2022 inzwischen zwar abgeschwächt. Dennoch bleibt der Arbeitsmarkt eng.
Sichtbar ist der Knappheitseffekt derzeit vor allem in der Gastronomie, wo mit einer erwarteten Lohnsteigerung von nominal 2,7 Prozent der höchste Anstieg erwartet wird. Erstmals seit zwanzig Jahren gibt es hier einen Arbeitskräftemangel; zudem handelt es sich um eine Branche, in der die Menschen dem Job-Hopping zuneigen. Innerhalb eines Jahres verlässt jeder vierte Arbeitnehmer das Unternehmen. Damit liegt die Fluktuationsrate bei rund 25 Prozent verglichen mit gut 10 Prozent in der Gesamtwirtschaft. In den letzten Jahren hatten auch die Informatik und das Gesundheitswesen, beides Bereiche mit einem besonders starken Fachkräftemangel, bei den Löhnen überproportional zugelegt.
Unter dem Strich ist der Aufwärtsdruck auf die Löhne trotz des Mangels an Fachkräften aber weniger stark, als man erwarten könnte.
Ein Grund dafür dürfte die Zuwanderung aus dem Ausland sein. Die Arbeitgeber sind nicht zwingend auf die Schweizer Wohnbevölkerung angewiesen. Sie können im ganzen Teich der EU fischen beziehungsweise rekrutieren. Gemäss dem Arbeitsmarktökonomen Siegenthaler hat die Personenfreizügigkeit mit der EU zwar gemäss verschiedenen Studien keinen Abwärtsdruck auf das Schweizer Lohnniveau ausgelöst.
Die offenen Grenzen haben aber wohl im Auf- und Abschwung eine dämpfende Wirkung auf die Löhne. Läuft es gut in der Wirtschaft, steigen die Löhne wegen der Zuwanderung weniger stark. Während einer konjunkturellen Durststrecke sinken sie aber auch weniger, weil ein Teil des Abschwungs quasi exportiert wird.
«Die Migration war für die Schweiz immer ein Ventil, um offene Stellen zu besetzen», bestätigt der UBS-Ökonom Kalt. Damit würden die offenen Grenzen dazu führen, dass die Knappheit auf dem Arbeitsmarkt nicht so schnell durchschlage. Die Löhne steigen dann weniger schnell. Aus Arbeitnehmersicht ist dies ein Nachteil. Langfristig positiv ist allerdings, dass der Schweiz so Arbeitsplätze erhalten bleiben, die sonst ins Ausland verlagert würden.
Kommt hinzu, dass immer mehr Unternehmen Lohnbänder für definierte Positionen aufstellen. Würden sie einen neuen Kollegen mit einem 20-Prozent-Zuschlag von der Konkurrenz abwerben, entstünden interne Ungerechtigkeiten. Um bei der ganzen Belegschaft gleichermassen grosszügig draufzulegen, reicht das Geld auch nicht.
Ferner vermeiden es Unternehmen nach Möglichkeit, Fachkräfte von der Konkurrenz mit höheren Löhnen abzuwerben, um nicht anschliessend im Sinne einer Retourkutsche das Gleiche zu erleben.
So wird dann eher versucht, Fachkräfte durch Automatisierungen oder eine Verlagerung der Produktion ins Ausland einzusparen. Wo das, wie in der Gastronomie oder Hotellerie kaum möglich ist, versuchen experimentierfreudige Betriebe beispielsweise mit einem reduzierten Menu-Angebot oder einem nicht mehr täglichen Zimmerservice Personal zu sparen.
Belastungsfaktor Krankenkassenprämien
Wie viel die Gewerkschaften vor diesem Hintergrund herausholen können, bleibt abzuwarten. Was die gestiegenen Lebenshaltungskosten angeht, mit denen so viele Haushalte kämpfen, sind auch die Krankenkassenprämien ein grosser Belastungsfaktor. Diese sind wegen der Ausweitung der Mengen weit stärker gestiegen als die allgemeine Inflation. Das aber spiegelt sich nicht in der Wertschöpfung der Unternehmen.