Man kann auch freundlich mit säumigen Zahlern umgehen: So funktioniert Inkasso mit Herz Pair Finance will eine sanfte Alternative zu den herkömmlichen Inkassofirmen sein, die säumige Zahler mit Drohungen unter Druck setzen. Die Firma, die etwa Forderungen von Zalando bearbeitet, beschäftigt viele Psychologen und Programmierer.
Pair Finance will eine sanfte Alternative zu den herkömmlichen Inkassofirmen sein, die säumige Zahler mit Drohungen unter Druck setzen. Die Firma, die etwa Forderungen von Zalando bearbeitet, beschäftigt viele Psychologen und Programmierer.
Es kann dem gewissenhaftesten Kunden passieren. Man bestellt etwas online und nutzt dann die Möglichkeit, diese später zu bezahlen. Per «Buy now, pay later», Rechnung per E-Mail oder sogar mit der guten alten Papierrechnung. Doch dann landet die E-Rechnung im Spamordner, ebenso die Mahnungen, oder aber man wartet zu lange mit dem Bezahlen, bis der Lohn auf dem Konto ist – und schon ist der Brief einer Inkassofirma da.
Firmen formulieren ihre Mahnungen meist freundlich und artikulieren Verständnis dafür, dass eine Rechnung noch nicht bezahlt wurde. Mit Einschaltung eines Inkassobüros aber ändert sich das. Der Tonfall wird scharf, zu lesen ist nun, dass die Forderung plus Gebühren in den nächsten Tagen beglichen werden müsse, sonst werde die Betreibung eingeleitet. Ab jetzt interagieren säumige Zahlerinnen und Zahler nur noch mit dem Inkassobüro. Die Firma, bei der man bestellt hat, ist nicht mehr zuständig.
Auch wird es nun richtig teuer. Auf die ursprüngliche Rechnung plus Mahngebühren kommt zusätzlich ein Verzugszins, der gesetzlich bis zu 5 Prozent der Forderung ausmachen kann. Am stärksten ins Gewicht fällt aber der sogenannte Verzugsschaden, den jedes Inkassobüro für sich geltend macht. Bei kleinen Forderungen beträgt dieser rasch 80 Franken, er kann aber rasch bis 150 Franken pro Forderung steigen.
Verdoppelung oder gar Verdreifachung
Lucien Jucker, Leiter Datenschutz bei der Stiftung Konsumentenschutz, führt ein Beispiel an: Eine ihm vorliegende Rechnung betrug 70 Franken, mit den Mahngebühren wuchs diese auf 80 Franken. Nach Einschaltung des Inkassobüros wurde ein Verzugszins von 3.50 Franken dazugerechnet, hinzu kam ein Verzugsschaden von 60 Franken, insgesamt ganze 143.50 Franken und damit mehr als das Doppelte der eigentlichen Forderung. Eine solche Verdoppelung oder gar Verdreifachung der Beträge sei durchaus üblich.
Das Geschäft mit dem Inkasso ist riesig, und es hat viele etablierte Spieler im Markt, die das Thema ganz klassisch angehen: mit Briefen und Telefonanrufen an säumige Zahler. Jemand, der es anders macht, ist Stephan Stricker. «Im Schnitt landen zwischen 1 bis 3 Prozent aller ausstehenden Forderungen einer Firma beim Inkasso», sagt Stricker. Er verweist auf die Statistik des Verbandes Inkasso Suisse. In der Schweiz waren im Jahr 2023 über 12 Milliarden Franken kumuliert ausstehend.
Bei dieser Zahl sind laut Stricker wohlgemerkt nur die Mahngebühren inklusive, nicht aber die Inkassokosten, also Verzugszinsen und Verzugsschäden. Zum Vergleich: In Deutschland waren laut Stricker 65 Milliarden Euro an nicht bezahlten Rechnungen ausstehend.
Stricker entwickelte früher international Technologien und Prozesse für den Online-Kauf und -Verkauf von Werbung. «AdTech hat mich darauf gebracht, auch das Inkassogeschäft KI-basiert rein digital anzugehen», sagt er im Gespräch mit der «NZZ am Sonntag». Im Jahr 2016 gründete er in Berlin das Fintech Pair Finance, dem er als CEO vorsteht. «2021 gingen wir nach Österreich, 2023 folgten die Niederlande, Frankreich und die Schweiz, 2024 Spanien und Belgien», führt er aus.
Als ersten grossen Kunden konnte Stricker Zalando gewinnen, «weil ich sie schnell von unserem Digitalansatz überzeugen konnte», so Stricker. Beim Online-Versandhandel für Schuhe und Kleidung wurden erstmals auf breiter Basis Daten erhoben, mit dem der Algorithmus von Pair Finance gespeist wurde. Denn im Gegensatz zur Konkurrenz kontaktiert das Fintech die säumigen Zahler fast ausschliesslich digital, nur vereinzelt per Post. Telefonanrufe an Endkunden gibt es bei Pair Finance nicht.
«Wir haben einen Algorithmus entwickelt, der uns die persönlichen Vorlieben von Kunden ausrechnet. Wir erkennen, wann jemand über welchen Kanal E-Mail, SMS oder Whatsapp liest und wann er wie bevorzugt zahlt. Nach jedem Kontakt, jeder Lesebestätigung wird der Algorithmus verfeinert, um so die nächste Kontaktaufnahme noch massgeschneiderter leisten zu können», erklärt Stricker.
Psychologie im Zentrum
Jedem Zahler werden von Anfang an Ratenzahlungen vorgeschlagen, 40 Prozent reagieren in den ersten zwei Stunden, gezahlt wird meist per Apple Pay oder in der Schweiz mit Twint.
Der zweite grosse Unterschied zu anderen Inkassobüros liege in der Tonalität des Kontakts. «Wir sehen den Kunden als wertvoll an und wollen ihm helfen, sich mit dem Bezahlen der Forderung zu rehabilitieren», so Stricker. Das ergebe auch Sinn für die Firmen, denn die Wiedereingliederung des Stammkunden sei deutlich weniger aufwendig als das Gewinnen neuer Kunden.
Strickers Plan ist ambitioniert: «Ich will den schlechten Ruf, den das Inkasso hat, tiefgehend verändern.» Man könne das anders machen, quasi Inkasso mit Herz, so auch das Motto von Pair Finance.
Durchschnittlich wird Pair Finance für ursprüngliche Beträge zwischen 180 und 250 Franken aktiv. Gründe für das Nichtbezahlen von Rechnungen seien Vergesslichkeit, unkontrolliertes Kaufverhalten und kurzfristige Liquiditätsprobleme.
Ein weiterer Fokus liegt auf der Psychologie. Gut 80 der 262 Mitarbeitenden sind Entwickler, aber Pair Finance beschäftigt auch Verhaltensforscher und Psychologen.
Geachtet wird auf Feinheiten bis hin zur Hintergrundfarbe in der digitalen Kommunikation. Eine Typologisierung ergab 16 verschiedene Kundentypen, eingeteilt nach der Fähigkeit zum Zahlen, dem Willen und danach, ob jemand eher emotional oder rational, strukturiert oder unstrukturiert agiert. Innert 90 bis 120 Tagen reagiere der Grossteil der Zahler, rund 70 Prozent würden in diesem Zeitraum bezahlen, das seien sehr gute Zahlen, sagt Stricker.
Der Schweizer Markt wird von Inkassofirmen wie Intrum, Arvato Infoscore und Creditreform dominiert. Pair Finance, mit gut 550 Kunden, ist hier im Herbst gestartet. Nach einem Monat Probezeit sei Carvolution heute ein fester Kunde, freut sich Marko Kusigerski, der Geschäftsführer von Pair Finance Suisse.
Laut Jucker vom Konsumentenschutz arbeitet heute die grosse Mehrheit der Schweizer Firmen mit einem Inkassobüro zusammen, das gehe durch alle Branchen. Oft sei bereits die gesamte Rechnungsstellung ausgelagert, bestelle man bei Fust oder Manor auf Rechnung, schliesse der Endkäufer neben dem Kaufvertrag noch einen weiteren Vertrag mit der Rechnungsstellungsfirma ab. Bei Nichtbezahlung involviert diese oft noch eine Inkassofirma.
Die Tätigkeit von Inkassobüros sieht Jucker allgemein sehr kritisch. Das Modell von Pair Finance bezeichnet er als legitim, für Endkunden mache es aber letztlich keinen Unterschied, wie und in welcher Frequenz sie kontaktiert werden. Wegen des Verzugsschadens sei eh fast jede Rechnung viel zu hoch.
Jucker rät Konsumenten, jede korrekt geschuldete Forderung inklusive Mahngebühren und Verzugszins zu bezahlen. Beim Verzugsschaden aber solle darauf beharrt werden, dass ein Inkassobüro offenlegt, worin dieser besteht. Hierauf bestehe ein gesetzlicher Anspruch.
In der Praxis aber sei es so, dass wegen der «aufgestellten Drohkulisse Betreibung» der Grossteil die gesamte, überhöhte Rechnung bezahle, so Jucker. Dabei könne gegen eine Betreibung Rechtsvorschlag erhoben werden und später Antrag auf Nichtbekanntgabe – so werde sie für Dritteinsehende wie Wohnungsvermieter oder potenzielle Arbeitgeber unsichtbar, ausser wenn der Gläubiger ein Gerichtsverfahren einleite, führt er aus. Das Thema beschäftigt auch immer wieder die Politik. Gefordert wird auch eine unabhängige Ombudsstelle spezifisch für das Inkasso.
Zoé Baches, «Neue Zürcher Zeitung»
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