Stagnierende Löhne und zu wenig Fachkräfte: Die Anomalie am Schweizer Arbeitsmarkt ist hartnäckig Im kommenden Jahr werden die Arbeitnehmenden in der Schweiz zum vierten Mal in Folge auf Reallohnerhöhungen verzichten müssen. Wie passt dieses Resultat der UBS-Lohnumfrage zu den lauten Klagen über Arbeitskräftemangel?
Im kommenden Jahr werden die Arbeitnehmenden in der Schweiz zum vierten Mal in Folge auf Reallohnerhöhungen verzichten müssen. Wie passt dieses Resultat der UBS-Lohnumfrage zu den lauten Klagen über Arbeitskräftemangel?
Es tönt paradox. Seit Jahren klagen Schweizer Unternehmen über eine Knappheit an Arbeitskräften, und seit Jahren kommen die hiesigen Löhne kaum vom Fleck. Das widerspricht eigentlich dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Es besagt, dass man für Dinge, die knapp im Angebot sind, mehr bezahlen muss. Bei Saisongemüse funktioniert der Mechanismus bestens, am Arbeitsmarkt offenbar nur begrenzt. Das dürfte auf absehbare Zeit auch so bleiben, wie eine Lohnumfrage der UBS zeigt.
«Kaufkraft unter Druck»
An der Umfrage teilgenommen haben die Verbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie 389 Schweizer Unternehmen; sie decken über 90 Prozent der Arbeitsbevölkerung ab. Der Titel, der die Resultate zusammenfasst, lautet «Kaufkraft unter Druck». Er erinnert eher an die Parole einer Gewerkschaft als an die Analyse von Bankökonomen. Doch der Titel ist zutreffend. So wollen die befragten Firmen für das nächste Jahr zwar mehrheitlich die Teuerung ausgleichen, darüber hinaus gehen sie aber kaum.
Im Durchschnitt planen die Unternehmen für 2024 eine Erhöhung der Nominallöhne um 1,9 Prozent, wobei sich zwischen den Branchen nur kleine Unterschiede abzeichnen. Bei einer geschätzten Inflation von 2 Prozent (UBS-Prognose) würde beim preisbereinigten Einkommen alles beim Alten bleiben. Die Arbeitnehmenden würden im vierten Jahr in Folge auf eine nennenswerte Reallohnsteigerung zu verzichten haben. Blickt man bis 2020 zurück, resultiert kumuliert gar ein Rückgang des Reallohnes um 2 Prozent.
Doch nicht alle Ausgaben eines Privathaushaltes werden von der Inflation berücksichtigt. Nicht im Landesindex der Konsumentenpreise enthalten sind etwa die Krankenkassenprämien. Weil diese Prämien im nächsten Jahr um durchschnittlich 8,7 Prozent steigen werden, dürfte 2024 für die meisten Haushalte nicht eine stagnierende, sondern eine sinkende Kaufkraft resultieren. Die UBS schätzt, dass der Prämienanstieg das durchschnittlich verfügbare Einkommen im nächsten Jahr um 0,5 Prozent schmälern wird.
Der öffentliche Sektor ist am grosszügigsten
Zwar sind die für 2024 geplanten Lohnerhöhungen breit abgestützt; so rechnen 70 Prozent der Branchen mit einem Plus um 2 Prozent. Einige Unterschiede fallen dennoch auf: So steht der öffentliche Sektor mit einer erwarteten Lohnsteigerung von 2,2 Prozent wieder einmal an der Spitze; die Furcht vor einer sich eintrübenden Konjunktur scheint in der Verwaltung weniger Eindruck zu machen als in der Privatwirtschaft. Am unteren Ende der Tabelle rangiert – ebenfalls nicht zum ersten Mal – die Medienbranche, und zwar mit einem Plus von 1 Prozent.
Auffallend bei den Ergebnissen ist die Rolle der Teuerung. Zwar war die Inflation zum Zeitpunkt der Umfrage deutlich niedriger als im Vorjahr. Dennoch hat bei den Arbeitnehmern die Forderung nach einem Teuerungsausgleich im Vorjahresvergleich an Bedeutung gewonnen. Das dürfte damit zu tun haben, dass die Inflation nicht mehr primär durch die Energiepreise angetrieben wird, sondern – etwa mit Blick auf die Preissteigerungen bei Mieten, öffentlichem Verkehr oder Strom – breiter abgestützt und somit deutlicher spürbar ist als noch vor zwölf Monaten.
Ins Auge sticht auch, dass die befragten Firmen weiterhin über fehlende Arbeitskräfte klagen. Zwar sind im Laufe dieses Jahres die Probleme bei der Personalrekrutierung kleiner geworden – etwa in den Bereichen Gastronomie und Freizeit, aber auch im Bausektor, wo die abkühlende Konjunktur für Zurückhaltung sorgt. Dennoch betont mit 73 Prozent noch immer eine grosse Mehrheit der Unternehmen, Mühe bei der Besetzung offener Stellen zu haben. Das ist ein höherer Anteil als in den Jahren 2019, 2020 und 2021.
Mehr Lohn durch Voice oder Exit
Warum führt der sehr hartnäckige Personalmangel nicht zu höheren Reallöhnen? Die Begründungen ändern sich im Jahresrhythmus: War es 2021 laut UBS vor allem der pandemiebedingte Konjunktureinbruch, der Mässigung bei Löhnen erforderte, war es 2022 die stark gestiegene Inflation, die bei Arbeitnehmern zum grössten Kaufkraftverlust seit 80 Jahren führte. 2023 drückten dann die höheren Energiepreise auf die Gehälter, und für 2024 dämpft die erwartete Wachstumsabschwächung die Lohnentwicklung.
Was können Arbeitnehmer tun? Sie können höhere Löhne fordern oder – falls die Forderung verhallt – die Stelle wechseln und so das Gehalt verbessern; Ökonomen sprechen von Voice oder Exit. Die Exit-Option und somit die bei Stellenwechseln oft resultierenden Lohnsprünge werden bei Umfragen, wie sie die UBS durchführt, nicht abgebildet. Die Vermutung liegt daher nahe, dass die tatsächliche Lohnentwicklung durch die Umfrageresultate unterschätzt wird. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage ist allenfalls doch nicht ganz ausser Kraft gesetzt.
Thomas Fuster, «Neue Zürcher Zeitung»