Vielen Arbeitnehmern drohen nach der Pensionierung Einkommenslücken: Wer heute 100000 Franken verdient, hat im Alter nur noch gut die Hälfte an Rente Eine neue Studie zeigt: Es wird immer schwieriger, mit den Renten aus AHV und Pensionskasse den gewohnten Lebensstandard fortzusetzen. Das gilt nicht nur für Gutverdienende, sondern auch für den Mittelstand.
Eine neue Studie zeigt: Es wird immer schwieriger, mit den Renten aus AHV und Pensionskasse den gewohnten Lebensstandard fortzusetzen. Das gilt nicht nur für Gutverdienende, sondern auch für den Mittelstand.
Vielen Arbeitnehmern in der Schweiz droht nach der Pensionierung eine erhebliche Einkommenslücke. Dies zeigen aktuelle Berechnungen des VZ-Vermögenszentrums. Laut dem Finanzdienstleister machen die Renten aus AHV und Pensionskasse bei einem Mann, der brutto 100 000 Franken pro Jahr verdient, nach der Pensionierung mit 65 Jahren im Durchschnitt nur 53 Prozent des letzten Lohnes aus. Im Jahr 2002 seien es noch 62 Prozent gewesen.
Gemäss der Bundesverfassung sollen die Renten aus AHV und Pensionskasse zusammen die Fortsetzung des gewohnten Lebensstandards ermöglichen. In der Praxis geht man von 60 Prozent des letzten Lohnes vor der Pensionierung aus. Die sogenannte Ersatzquote errechnet sich aus den Renten aus AHV und Pensionskasse.
Sinkende Pensionskassenrenten
Vor allem Personen mit höheren Einkommen dürften die Ersatzquote von 60 Prozent immer seltener erreichen, wie die Berechnungen zeigen. Bei einem Jahressalär von 150 000 Franken ist nach der Pensionierung im Durchschnitt nur mit einem Wert von 44 Prozent zu rechnen.
Vor allem die Renten aus der Pensionskasse sind in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Da sie auf die ultraniedrigen Zinsen und die Alterung der Schweizer Bevölkerung reagieren mussten, haben viele Vorsorgeeinrichtungen die Umwandlungssätze gesenkt. Der Umwandlungssatz bestimmt, wie das angesparte Kapital in der Pensionskasse in eine jährliche Rente umgewandelt wird.
Hat jemand beispielsweise bis zur Pensionierung 500 000 Franken angespart und der Umwandlungssatz beträgt 5 Prozent, erhält die Person eine jährliche Rente von 25 000 Franken.
Karl Flubacher, Mitglied der Geschäftsleitung beim VZ-Vermögenszentrum, sagt, die durchschnittliche AHV-Rente sei in den vergangenen zwanzig Jahren zwar um 19 Prozent gestiegen, doch dies kompensiere diese Rückgänge bei den Renten aus den Pensionskassen nicht. Hinzu komme, dass derzeit kaum eine Pensionskasse die Inflation, welche die Kaufkraft der Renten entwerte, ausgleiche.
Ausnahmen bei Arbeitgebern mit guten Vorsorgeplänen
Aus seiner langjährigen Praxis könne er sagen, dass die Ersatzquote bei Einkommen von 100 000 Franken bestenfalls noch bei 50 bis 60 Prozent liege, sagt auch Reto Spring, Präsident des Finanzplaner-Verbands Schweiz. Bei Gutverdienenden jenseits der 150 000 Franken liege sie heute schon zumeist unter 50 Prozent. «Ausnahmen gibt es bei den einzelnen Arbeitgebern, die deutlich bessere Vorsorgepläne anbieten, als das BVG vorschreibt – es sind aber wie gesagt Ausnahmen», sagt er.
Die Zahlen zeigen die Bedeutung des eigenverantwortlichen privaten Vermögensaufbaus. «Fast niemand ist in der Lage, nach dem Erwerbsleben seinen Standard auf unter 50 Prozent zu reduzieren», sagt Spring. Es sei kein Zufall, dass jeder dritte AHV-Rentner im Ausland lebe. Laut dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erhielten Ende 2022 insgesamt 2,5 Millionen Personen eine AHV-Altersrente. Davon flossen 789 000 an Personen mit einem Wohnsitz im Ausland, ein Sechstel von diesen hatte die Schweizer Staatsangehörigkeit.
Viele Arbeitnehmer mit Löhnen über 100 000 Franken sparten nur mit der privaten Vorsorge der Säule 3a, nicht darüber hinaus, sagt Spring. Oft machen sie zudem den Fehler, auch bei einem längeren Anlagehorizont die Säule-3a-Gelder nicht in Wertschriften-, sondern in schlecht verzinsten Kontolösungen anzusparen.
Versicherte bleiben gelassen
Laut der VZ-Studie sehen viele Versicherte die Lage indessen weiter gelassen. Zwar schätzten 70 Prozent der Befragten die Sicherheit der künftigen Pensionskassenrenten als kritisch ein. 87 Prozent gingen aber davon aus, dass sie ihre eigene Pensionierung problemlos mit den Renten aus AHV und Pensionskasse sowie ihrem Vermögen finanzieren können.
In der Vorsorgebranche gibt es auch andere Ansichten zu der Thematik. Christian Heiniger, Pensionskassenexperte bei dem Beratungsunternehmen Willis Towers Watson, warnt vor Panik. «Die Umwandlungssätze der Pensionskassen sind nicht mehr weiter gesunken, seit die Zinsen gestiegen sind», sagt er. Ausserdem dürfe man nicht vergessen, dass viele Pensionskassen in den vergangenen Jahren deutliche Kompensationsleistungen an ihre Versicherten gezahlt hätten, wenn sie die Umwandlungssätze gesenkt hätten.
«Es hat keinen massiven Rentenabbau gegeben»
«Versicherte sollten nicht nur auf die Umwandlungssätze schauen, sondern auch auf die Volumen ihrer Pensionskassen-Töpfe», sagt er. Diese seien bei vielen Kassen durch die Kompensationszahlungen deutlich gefüllt worden. Dadurch seien die Kürzungen oftmals weitgehend aufgefangen worden. «Es hat keinen massiven Rentenabbau gegeben», sagt Heiniger.
Individuelle Kompensationsmassnahmen der Pensionskasse gegenüber den Versicherten seien in den Berechnungen zu den Ersatzquoten nicht berücksichtigt, sagt Flubacher dazu. Bei grösseren Vorsorgeeinrichtungen habe es solche wohl oftmals gegeben, aber bei Sammelstiftungen seien Kompensationszahlungen im Allgemeinen eher unüblich, sagt er und widerspricht damit Heiniger. In Sammelstiftungen ist unter anderem die berufliche Vorsorge vieler KMU organisiert. «Die Mehrheit der Arbeitnehmer in der Schweiz arbeitet in KMU und hat oftmals keine Kompensationen erhalten», sagt er.
Kapitalbezüge aus der Pensionskasse nicht enthalten
Zu berücksichtigen ist indessen auch, dass manche Versicherten ihr Pensionskassenguthaben bei der Pensionierung zumindest teilweise als Kapital und nicht als Rente beziehen. Diese Bezüge flössen in die Ersatzquote nicht mit ein, sagt der Pensionskassenexperte Heiniger. Er geht zudem davon aus, dass Vorsorgeeinrichtungen ihren Versicherten in der Regel einen Inflationsausgleich zahlen, sofern die Teuerung weiterhin erhöht bleibt.
Gesetzlich ist bei den Vorsorgeeinrichtungen eine Anpassung der Altersrenten an die Inflation nur dann vorgesehen, wenn sie entsprechende finanzielle Möglichkeiten haben. Bei der AHV hingegen werden die Altersrenten nach einem gesetzlichen Mischindex an die Teuerung angepasst.
Michael Ferber, «Neue Zürcher Zeitung»