Ausflugstipp zum Wochenende: Ein Hoch auf den Fehler! Die aktuelle Installation der international gefeierten Textilkünstlerin Claudia Caviezel im Kunsthaus St. Gallen wirft grundlegende Fragen zu Kreativität in Zeiten künstlicher Intel-ligenz auf – und findet eine triumphale Antwort.
Die aktuelle Installation der international gefeierten Textilkünstlerin Claudia Caviezel im Kunsthaus St. Gallen wirft grundlegende Fragen zu Kreativität in Zeiten künstlicher Intel-ligenz auf – und findet eine triumphale Antwort.

Ein Computerspiel stürzt ab und eine Endlosbewegung flackert in Fehlfarben. Ein Bild wurde nicht ganz richtig kopiert, es entstehen Farbabstufungen, die verfremden, was man scharf und klar hätte haben wollen. Ein Fleck auf der Linse verwischt die Fotografie. Die meisten Menschen behandeln solche Fehler, sogenannte «Glitches», als Ärgernis, starten den Computer neu, zerreissen die fehlerhafte Kopie, löschen das Bild. Claudia Caviezel, Trägerin des Schweizerischen Grand Prix für Design, schaut hingegen genau dann richtig hin.
Wer bis zum 4. Januar 2026 die breite Treppe vom Foyer des Kunstmuseums St. Gallen zur Sammlung hochsteigt, den empfängt ihre grosse Installation «Glitch». Die eigentliche Hymne auf den Fehler ist ein Rausch, eine ungewöhnlich rhythmisierte Farbexplosion. Der eigens für das Kunstmuseum St. Gallen entwickelte Wandbehang, sagt die vielfach preisgekrönte Künstlerin in ihrem lichtdurchfluteten Atelier in St. Gallen, solle die Bewegung und den Übergang von einer Welt in eine andere, vom Aussenraum ins Museumsinnere aufnehmen.
Gelingt, keine Frage. Wer vor «Glitch» steht, weiss: fertig Alltag, ab hier Kunst! Die Installation erreicht aber viel mehr, denn wie jede gute Kunst berührt sie den Betrachter nicht nur emotional oder visuell. Sie erlaubt ihm vielmehr zusätzlichen Interpretationsspielraum, fordert ihn spielerisch dazu auf, nachzudenken, eigene Fragestellungen zu entwickeln.
Bei näherer Betrachtung ist «Glitch» politisch
«Glitch» ist entstanden, indem Caviezel auf einer Mexiko-Reise erworbene Stickereien und einen historischen Siebdruck einscannt und diese dabei während des Scanvorgangs von Hand bewegt. Und so manuell die ursprüngliche Bedeutung des Wortes «Glitch» nachvollzieht. Der Begriff, der heutzutage für eine kurzfristige Entgleisung in einem Computerspiel oder einem Programm steht, stammt aus dem deutschen «glitschen». Er erfährt einen sanften Bedeutungswandel übers Jiddische «gletschn», wo er eher für Ausrutschen steht, und wird erst via englische Programmier- und Gamersprache zur Beschreibung eines digitalen Fehlers umgemünzt.
In «Glitch» wird dieser Fehler zum Programm. Mit dem manuellen Rutschen des Gewebes auf dem Scanner stört Caviezel die digitale «Kopie» des Gewebes bereits in der Entstehung. Sie schafft so gezielt visuelle Fehler, die sie in weiteren manuellen Arbeitsschritten zusätzlich verfremdet und neu rhythmisiert. Um sie schliesslich mit horizontal geschwungenen, dunklen Elementen zu ergänzen. Diese nehmen bei näherer Betrachtung den Schwung des schmiedeeisernen Treppengeländers des Kunstmuseums St. Gallen auf. «Glitch» verbindet so gutschweizerische alte Schmiedekunst visuell mit lateinamerikanischen Textiltechniken und erhebt diese Kombination durch moderne digitale Mittel zu einem überraschend eigenständigen Sinneserlebnis.
Tradierte Handwerkstechnik aus Mexiko und der Schweiz, verfremdet mit digitaler Technik aus den USA – die grosse Wandinstallation kann, insbesondere in Zeiten, in denen in einer Vielzahl von Staaten isolationistische Kräfte dominieren, leicht als Hohelied auf ein multilateralistisches Welt- und Kulturbild gelesen werden.
Der wild-bunte Teppich wirft aber auch Fragen zum Status der Unschärfe zwischen Technik, künstlicher Intelligenz und menschlicher Kreativität auf. KI generiert Bilder, Tondokumente und Videomaterial, die zunehmend nicht mehr von der Realität zu unterscheiden sind. Da rücken die Qualität und die Innovationskraft, die menschlichen Fehlern innewohnen, in scharfen Fokus. Denn so wie jede biologische Weiterentwicklung auf einer Mutation in der DNA beruht – auf einem Fehler im Kopierprozess – und so wie in dieser Mutation stets die Gefahr des Scheiterns steckt, so entspringt auch jeder biologische Vorteil zunächst einem solchen Fehler.
Was für die Biologie gilt, gilt auch für menschliches Fortschrittstreben: Erfolg und Scheitern, den Zwillingsbrüdern mit unterschiedlichen Schicksalen, liegt im Bereich neuer Ideen oft eine Mutation im Denken zugrunde, die man genauso gut Kreativität nennen könnte. Stets replizierte Stagnation führt hingegen zwangsläufig über die Zeit zu Stillstand und Untergang. Auf künstliche Intelligenzen bezogen formulierten einige Theoretiker bereits vor rund drei Jahren die Theorie des «Modellkollapses». Sie gehen davon aus, dass KI ihren Datensatz zunehmend mit eigenproduzierten Inhalten füttert und sich so selbst bis hin zur Unbrauchbarkeit bastardisiert. Diese Gefahr, und darin liegt die tröstliche Aussage von Caviezels «Glitch», besteht für Menschen nicht.
Caviezels Werk sprengt jeden Rahmen
Sie besteht dann nicht, wenn wir uns auf ihre ureigenen Fähigkeiten besinnen. Wie schön ist es, wagemutig Fehler zuzulassen, sie gar heraufzubeschwören, mit ihnen zu spielen und zu Neuem zu formen. Wie schön ist es, überhaupt sinnlich tätig zu sein, sagt denn auch Caviezel, die «immer möglichst lange im Analogen bleiben» will. Das bedeutet: kneten, malen, mit Materialien experimentieren, fotografieren, reisen, mit anderen Menschen in unterschiedlichsten Bereichen Kooperationen eingehen, «möglichst selten in den Computer starren».
Bei Caviezel werden mit diesem Ansatz zufällige Farbkombinationen aus der Kinderknetmasse Play-Doh zu einer Bekleidungskollektion, die in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Collectif mon Amour im Geschäft BIG an der Bahnhofstrasse zu kaufen war. Tropfen aus Wasserfarbenpigmenten, die während des Trocknens einen überraschenden Farbverlauf bilden, finden sich vergrössert auf Bettwäsche bei Möbel Pfister. Die fast vergessene japanische Drucktechnik Riso inspiriert die geometrischen Flächen des im Onlineshop ZigZag zu kaufenden Duschvorhangs «Risografia» und, weiter überarbeitet, Kelim-Teppiche, von denen letzte Exemplare aktuell noch bei Möbel Pfister im Ausverkauf sind. Aber nicht nur ins Inland reicht Caviezels lebensfroher Ansatz, ihre Designs sieht man auf Michelle Obamas Roben oder auf den Laufstegen für Modelabels wie Vivienne Westwood, Louis Vuitton oder Akris.
Einziger Wermutstropfen: Einen eigenen Shop, auch online, unterhält Caviezel noch keinen. «Im Moment ist es mir noch wichtiger, neben der nötigen Administration genügend Zeit fürs Ausprobieren, Kreieren, eigentlich fürs Spielen offen zu lassen.»
Ausprobieren, kreieren, spielen. Ergänzt durch Offenheit, Neugierde und Kollaboration über geografische und kulturelle Grenzen hinweg – diese Grundlage urmenschlicher Innovationskraft, der zwar immer das Scheitern innewohnt, die aber Neues und Fortschritt überhaupt erst zulässt, dieses unbändige Hoch auf die Kraft des Fehlers ist bei Claudia Caviezel besonders triumphal gelungen.
Kunstmuseum St. Gallen: «Glitch», Claudia Caviezel, bis 04.01.2026
Schweizer Textildesign mit internationaler Ausstrahlung

Claudia Caviezel (1977; Foto: Tom Egli) ist Trägerin des Schweizerischen Grand Prix für Design sowie insgesamt fast 20 weiteren nationalen und internationalen Designpreisen. Zuletzt führte ein Stipendium des Zuger Ateliers Flex die Künstlerin für drei Monate nach Japan, eine Reise, die in der Ausstellung «Claudia Caviezel: Colour x Culture x Craft» in Tokio mündete. Von September 2023 bis Januar 2024 widmete ihr das Zürcher Museum für Gestaltung eine grosse Ausstellung unter dem Namen «Caleidoscope». International ist und war Caviezels Arbeit von grossen US-Städten wie New York, Los Angeles oder Massachusetts über europäische Stationen wie Madrid und Paris bis in den asiatischen Raum mit Stationen in Korea, China oder Indien immer wieder in Museen zu sehen. Für den Schweizer Pavillon der World Expo 2017 in der kasachischen Hauptstadt Asana gestaltete sie in Kollaboration mit dem Schweizer Atelier Oi die Fassade. Caviezel hatte Positionen bei den Schweizer Haute-Couture-Häusern Jakob Schläpfer und Akris und arbeitet seit 2020 selbständig an eigenen Projekten. Sie lebt und arbeitet mit ihrer Familie in St. Gallen.