Vor 100 Jahren sind die Schweizer Fussballer plötzlich pleite – dann werden sie Europameister 1924 schafft es die Nationalmannschaft in Paris bis in den Olympia-Final. Auch dank einer unvergesslichen Aktion ihrer Fans.
1924 schafft es die Nationalmannschaft in Paris bis in den Olympia-Final. Auch dank einer unvergesslichen Aktion ihrer Fans.
Den Schweizer Fussballern geht das Geld aus, sie haben keinen Schlafplatz und ungültige Zugtickets.
Was heute undenkbar scheint, erlebt das Nationalteam vor 100 Jahren an den Olympischen Spielen in Paris. Dort hat sich die Auswahl im Fussballturnier soeben für die Halbfinals qualifiziert. Doch nun braucht sie finanzielle Unterstützung aus der Heimat, um die weiteren Hotelübernachtungen bezahlen zu können.
Die Zeitung «Sport» ruft deshalb zu einer Spendenaktion auf. Und tatsächlich funktioniert das vielleicht erste Crowdfunding in diesem Land: Fans bringen «Fünfliber» und «Zehnernötli» in die Redaktion in Zürich, Firmen und ihre Mitarbeiter sammeln für die «Nati». So kommen an einem einzigen Tag 6000 Franken zusammen – für die Schweizer Fussballer kann das Turnier weitergehen.
Sie reisen im Mai 1924 im Zug auf Holzbänken in der dritten Klasse in die französische Hauptstadt. Die Delegation glaubt an eine baldige Heimreise. Zu stark scheinen die Konkurrenten am Olympia-Turnier, das zudem im K.-o.-Modus ausgetragen wird. Der Verband bucht das Hotel für ein paar Nächte. Und kauft für die Rückreise ein günstiges Kollektivbillett, das nach zehn Tagen verfällt. Die Nationalspieler, damals noch Amateure, haben bei ihren Arbeitgebern deshalb nur Kurzferien eingegeben. Sie haben keinen Granit Xhaka dabei, der die Koffer bis zum Final gepackt hat.
Doch die Schweizer legen eine schier unfassbare Siegesserie hin. Im Auftaktspiel bezwingen sie Litauen 9:0 – bis heute ihr höchster Sieg. Im Achtelfinal treffen sie auf die hoch favorisierten Tschechoslowaken, das Spiel endet 1:1 nach Verlängerung. Weil es kein Penaltyschiessen gibt, kommt es zum Wiederholungsspiel – das die Schweiz 1:0 gewinnt. Und spätestens nach dem 2:1 im Viertelfinal gegen Italien ist die Euphorie in der Heimat riesig. Da sind viele Fans auch bereit, den Spielern den weiteren Aufenthalt zu finanzieren. So geht Support!
Radioübertragungen rücken den Fussball näher ans Publikum
Die Sommerspiele von Paris 1924 gelten als Fanal für den modernen massenmedialen Sport: Erstmals berichten Reporter live vor Ort. Durch die Radioübertragungen rücken die Sportereignisse näher an die heran, die nicht im Stadion sind.
In der noch eher jungen Sportart Fussball ist das Olympia-Turnier damals der international wichtigste Wettbewerb; die erste Weltmeisterschaft wird erst sechs Jahre später stattfinden, die Premiere der Europameisterschaft 1960. Trotz der Bedeutung fehlen vor 100 Jahren am ersten interkontinentalen Fussballturnier mit 22 Teilnehmern aus vier Kontinenten einige Länder: Die Deutschen und Österreicher sind wegen der Kriegsschuld verbannt. Und weil damals noch das Amateurstatut gilt, bleiben auch die Briten und Dänen daheim – in den beiden Ländern kicken offiziell bereits Profis.
In der Schweiz befindet sich die aus England importierte Sportart erst auf dem Weg zur Professionalisierung. Das belegen allein schon die Selektion und die Vielseitigkeit der Nationalspieler. Die Trainer der grossen Klubs GC, YB und Servette stellen das Team gemeinsam zusammen. Von den siebzehn Aufgebotenen sind sieben Servette-Spieler, so auch der Ersatzspieler Charles Bouvier, der 1936 Olympia-Gold im Viererbob gewinnt.
Mindestens ebenso vielseitig begabt ist der Stürmer Paul Sturzenegger. «Sturzi», im gleichen Jahr Meister mit dem FC Zürich, hat seine Karriere als Goalie begonnen, war Schweizer Meister im Weitsprung und ist nebenbei ein begnadeter 100-m-Läufer. Im Startspiel gegen Litauen schiesst er als erster Schweizer Nationalspieler vier Tore in einer Partie; im Viertelfinal gegen Italien trifft er zum 1:0.
Max («Xam») Abegglen gelingt mit sechs Goals sogar noch ein Treffer mehr; er wird hinter dem Uruguayer Pedro Petrone zum zweitbesten Torschützen des Olympia-Turniers. Abegglen zählt 1916 zu den Mitgründern des nach ihm benannten Neuenburger Fussballklubs. Gegen die Italiener erzielt er das entscheidende Goal zum 2:1.
Nach dem überraschenden Viertelfinalsieg wirkt selbst die zu Turnierbeginn skeptische NZZ entzückt: «Auch die stärksten Optimisten konnten kaum die Hoffnung hegen, dass wir derart glänzend abschneiden würden.»
Und es kommt noch besser. Im Halbfinal gegen den Turnierfavoriten Schweden trifft Abegglen doppelt, die Schweiz gewinnt 2:1 und steht sensationell im Olympia-Final. Der Berner «Bund» schreibt dazu: «Das Sportleben hat eine internationale Ausdehnung, Organisation und Bedeutung erlangt, an der auch der Staat nicht achtlos vorübergehen kann.» Und tatsächlich: Der Schweizer Botschafter empfängt die Fussballer zu einem Nachtessen beim Eiffelturm, der freisinnige Bundesrat Ernest Chuard telegrafiert Glückwünsche nach Paris: Das ganze Land sei stolz auf die Nationalmannschaft.
Dass deren Erfolg zur Staatsangelegenheit wird, gefällt aber nicht allen Schweizer Medien. Die sozialdemokratische Berner «Tagwacht» schreibt, die meisten bürgerlichen Zeitungen seien «ob all den Fussballsiegen in nationalistische Ekstase gefallen».
Uruguay mit Andrade fasziniert Fussball-Europa
Im Final vom 9. Juni treffen die Schweizer auf Uruguay, 40 522 Zuschauer kommen ins Stade de Colombes. Das Spiel soll live in die Zürcher Tonhalle übertragen werden, von einem Radioreporter, der in einem Fesselballon über dem Stadion in Colombes schwebt. Aber starker Wind treibt den Ballon mit dem Reporter vom Stadion weg, die Übertragung muss abgebrochen werden. So erfahren die Fans in der Heimat verspätet vom 0:3 ihres Nationalteams.
Doch die Niederlage gegen die klar überlegenen Südamerikaner ist keine Blamage. Die Uruguayer sind die eigentliche Sensation des Turniers. Sie faszinieren Fussball-Europa mit ihrem virtuosen Offensivspiel und einer bisher ungesehenen körperlichen Härte.
Und sie haben José Leandro Andrade. Er ist so etwas wie der erste internationale Superstar des Fussballs. Keiner verkörpert die Dominanz des uruguayischen Stils in den 1920er Jahren besser als der einzige dunkelhäutige Spieler der «Celeste». Beim 5:1 im Viertelfinal gegen den Gastgeber Frankreich fliegt Andrade über den halben Platz und dribbelt sieben Gegenspieler aus, bevor er einen Teamkollegen lanciert, der nur noch einschieben muss.
Andrade ist auch neben dem Platz ein Entertainer. Nach dem Finalsieg bleibt er mehrere Monate in Paris. Er tingelt als Tänzer und Sänger durch Bars und Cafés, verkehrt in gehobenen Kreisen, stimmt die Klaviere seiner Gastgeber. Vier Jahre später holt er in Amsterdam erneut Olympia-Gold, 1930 gewinnt er in der Heimat mit Uruguay den ersten WM-Titel.
Als die Schweizer Fussballer ihrerseits in die Heimat zurückkehren, werden sie in Basel frenetisch empfangen. Später ist auch der Zürcher Hauptbahnhof übervoll mit Menschen. Sie feiern ihre Nationalmannschaft. Denn die ist als beste Equipe des Kontinents nun Europameister – wenn auch nur inoffiziell.