«Brudi, das ist Deko» – warum auch Teenager im ältesten Musikgeschäft von Zürich einkaufen Die meisten Tonträgergeschäfte sind längst verschwunden. Doch «Rena Kaufmann» trotzt dem Trend. Heute führen Sybille und Yvonne Kaufmann den traditionellsten Laden der Stadt, den ihr Urgrossvater 1909 gründete.
Die meisten Tonträgergeschäfte sind längst verschwunden. Doch «Rena Kaufmann» trotzt dem Trend. Heute führen Sybille und Yvonne Kaufmann den traditionellsten Laden der Stadt, den ihr Urgrossvater 1909 gründete.
Wenn in einem Geschäft alle sofort von der Vergangenheit erzählen und stolz auf das über 100-jährige Firmenlogo verweisen. Wenn sie Staub vom Familienfoto abwischen. Und wenn sie an antiken Geräten frühere Aufnahmetechniken erklären, während weit und breit keine Kundschaft zu sehen ist, dann fragt man sich unweigerlich, wie lange das noch gutgehen kann.
Erkundigt sich dann auch noch jemand, ob der Herr etwas gekauft habe? Jener Herr, der als einziger Kunde in einer halben Stunde das Geschäft mit leeren Händen verliess, dann ist die Meinung gemacht: «Die gibt es nicht mehr lange.» Denn wie soll das auch gehen, wenn man auf CD und Platten sowie ein paar Deko-Artikel setzt, obwohl die ganze Welt Musik über Spotify und Youtube streamt?
Doch der Schein trügt bei Rena Kaufmann, dem ältesten Tonträgergeschäft der Stadt. Während andere Traditionsgeschäfte wie Jecklin oder Musik Hug verkauft wurden, zahlreiche Plattenläden in der Stadt schliessen mussten, ist die Stimmung im grosszügigen Lokal an der Fraumünstergasse entspannt. «Wir sind zufrieden mit dem Geschäft», sagen Sybille und Yvonne Kaufmann, die das auf Klassik spezialisierte Musikgeschäft in vierter Generation führen.
Die beiden Schwestern kennen die Erwartungshaltung, dass ihr Geschäft bald nicht mehr existieren könne. Sie erzählen von Kunden, die nach langer Zeit wiederkehrten und erstaunt und gleichzeitig froh seien, dass es diesen Laden mit den CD- und Plattenkisten immer noch gebe. «Doch wir wirtschaften gut, weil wir schon seit 114 Jahren wirtschaften», sagt Yvonne Kaufmann, die Jüngere. Und Edina Kaufmann, die sich als «la mamma» vorstellt, fügt mit einem Schmunzeln hinzu, dass die Liegenschaft übrigens nicht der Familie gehöre.
Musik auf der Eisfläche und im Luftballon
Auf die Frage, wie man heute noch Musik verkaufen kann, reist man bei Rena Kaufmann erst einmal in die Vergangenheit zurück, zu Josef Kaufmann, dem Urgrossvater der heutigen Geschäftsführerinnen. Er eröffnet 1909 an der Theatergasse beim Bellevue sein Geschäft mit Phonographen der Marke Rena, einem Wiedergabe- und Aufzeichnungsgerät, das noch vor dem Grammophon erfunden wurde.
Kaufmann ist der Erste, der das Gerät und damit überhaupt Tonträger in die Schweiz importiert. Und er weiss, wie er Musik unter die Leute bringt. Im Winter reist er nach St. Moritz und beschallt dort die Eisflächen, in der Zeitung schaltet er Anzeigen für Luftballon-Wettfliegen mit Grammofonbegleitung, selbst nimmt er humoristische Beiträge auf Platten auf – «Emil-Platten» nennt Edina Kaufmann den Stapel, den sie aus einem Hinterzimmer hervorholt.
Über die Jahre wird das Angebot bei Rena Kaufmann laufend den technischen Neuerungen angepasst. Als das Geschäft mit abspielbaren Tonträgern mit dem Aufkommen des Radios in den 1930er Jahren einzubrechen droht, sattelt man auf Radiogeräte um, später folgen Langspielplatten, Musikkassetten, CD, ein zusätzliches Geschäft mit Hi-Fi-Geräten. Und im heutigen Ladenlokal, wo Rena Kaufmann seit den 1970er Jahren eingemietet ist, werden Signierstunden mit Klassikgrössen wie Luciano Pavarotti, Cecilia Bartoli, Nello Santi oder Edita Gruberovà organisiert.
Vor der Wand mit signierten Fotos erzählt Edina Kaufmann, wie die Kundinnen damals stundenlang mit Blumen auf ihre Stars warteten. Sie erzählt von Pavarotti im Pelzmantel, oder war es doch Plácido Domingo? Die Details sind nicht mehr so klar, auch weil es einfach so viele waren. Doch Sybille Kaufmann, die jüngere Tochter, sagt irgendwann bestimmt: «Auf jeden Fall war das die beste Zeit.»
In den 1980er Jahren seien die Leute grosszügig gewesen und gut drauf, auch die Musikindustrie sei im Hoch gewesen. Ein Treffen mit den Grössten der Klassik organisierte man damals ohne grosse Umstände. Überhaupt sei alles unkompliziert gewesen, fügt ihre ältere Schwester hinzu. «Die Leute hatten kein Handy, man rief sich an, ging aus, traf sich in den Plattenläden, an Konzerten und in den Klubs.» Und man versteht: Diese Frauen hatten Spass.
Taylor Swift: Gleiche Musik, viermal verkauft
Dieser Groove von damals ist bei Rena Kaufmann immer noch zu spüren. Nicht nur, weil es aussieht wie früher, als man das neue Album seiner Lieblingsband zum ersten Mal im Laden hörte, und weil die Bestellungen nach wie vor von Hand erfasst werden, sondern weil die Frauen etwas Unverkrampftes ausstrahlen, optimistisch bleiben, auch wenn es schon düster aussah für sie.
«Eine Zeitlang litten wir sehr unter dem Streaming. Aber wir haben das ausgehalten. Und sind immer noch da», sagt Sybille Kaufmann und steckt ihre Brille ins krause Haar. Letztlich hat Vinyl ihr Geschäft gerettet – und eine Generation, die das Analoge als Vorlage für den nächsten Post in den sozialen Netzwerken braucht.
«Die Jungen, die mit Streaming aufgewachsen sind, flippen manchmal fast aus, wenn sie die CD ihrer Lieblingsband oder eine LP von Lil Peep in der Hand halten», sagt Yvonne Kaufmann. Platten würden auch oft als Geschenk gekauft, und für viele seien Tonträger heute auch einfach Objekte, die man im Zimmer aufstellt. «Brudi, das isch Deko», imitiert sie die Jugendlichen, die bei Rena einkaufen, wie die Schwestern ihr Geschäft nennen.
Dass es bei den Platten nicht immer um die Tonqualität, sondern auch ums Design geht, macht auch eine grün eingefärbte Platte von Lana del Rey deutlich. Und dann ist da das Album «Midnights» von Taylor Swift. Die Künstlerin, die mit ihren Alben und Konzerten sämtliche Rekorde bricht, macht vor, wie Musik verkaufen heute geht: Ihr Album vom letzten Jahr gibt es gleich in vier Ausgaben. Nur das Cover und die Farbe des Vinyls sind anders. «Und Hardcore-Fans kaufen natürlich gleich alle vier», sagt Yvonne Kaufmann.
Ein Pfui! Am Verkaufstresen
Der Fokus von Rena Kaufmann liegt jedoch nach wie vor auf klassischer Musik und professioneller Beratung. Denn während man die vier Platten von Taylor Swift mit einem Klick bestellt, findet man im Klassikbereich vieles nicht so leicht im Netz.
So suchen Kunden etwa nach Werken von unbekannten Komponisten, ohne zu wissen, ob es überhaupt Aufnahmen von diesen gibt, oder sie brauchen eine Empfehlung für die Arbeit mit einem Chor. «Das sind anspruchsvolle Recherchen», sagt Yvonne Kaufmann, die am meisten im Laden steht und Stammkundinnen auch einmal nach Hause schickt, wenn diese eine Aufnahme nach Jahren ein zweites Mal kaufen wollen.
Sie hatte genauso wenig wie ihre Schwester vor, ins Familiengeschäft einzusteigen. Doch vor vierzig Jahren musste sie nach der Lehre als Buchhändlerin erst einmal Schulden bei den Eltern abarbeiten. Wenig später kam ihre Schwester aus dem Tourismus dazu. Beiden sind geblieben und arbeiten noch immer mit wenig Lohn, ohne Mittagspause und oft an sechs Tagen in der Woche, weil es anders nicht ginge. «Arbeite nie im eigenen Familienbusiness», posaunt Sybille Kaufmann heraus und fügt dann hinzu, dass sie ja immer Spass gehabt hätten.
So wird auch an diesem Montagmorgen am Ende nicht nur gut verkauft, sondern auch viel gelacht. Etwa als ein älterer Herr, der jeden Morgen kurz vorbeischaut, den Laden betritt. Er hustet und beschwert sich darüber, dass zu Hause die Heizung nicht laufe, kritisiert, dass Meteo immer nur die Höchstwerte angebe und die Tiefstwerte ohnehin nie stimmten. Schon eilt Edina Kaufmann, die ab und zu aushilft, zum Tresen und rattert die aktuellen Werte für den Norden und Süden herunter. «Weniger trinken», ruft eine der Töchter von hinten hervor, «Mehr Milch», die andere. Die Mutter empfiehlt eine Bettflasche aus der Dekoecke, die das Musiksortiment ergänzt. Doch der Mann winkt ab, sagt lachend, er habe eine bessere Bettflasche: «Zwei Flaschen Wein.»
Wenig später geht das gleiche Hin und Her los, als ein älterer Herr in kurzer Hose, Sweatshirt und Baseballmütze am Tresen steht. Vor ihm liegt eine Platte von Jerry Garcia, jede Woche ist es eine andere. «Konzentriertes Sprechen, das ist die Presse», sagt eine der Schwestern, als er etwas Schräges dahinfabuliert.
Als er dann erzählt, dass er in den 1970er Jahren Rock in einem Privatklub an der Laternengasse aufgelegt habe, sind die drei Frauen selbst erstaunt. Und wollen im nächsten Moment schon wissen, ob seine Haare nun immer noch blau gefärbt sind. Als er schliesslich von seinem «Schätzli» erzählt und etwas zu weit geht, ruft die jüngere Kaufmann-Schwester laut «Pfui!». So, wie man es zu den guten alten Zeiten tat.
Wie es weitergehen soll, ist bei Rena Kaufmann unklar. Eine fünfte Generation wird es nicht geben, die Tochter von Sybille Kaufmann geht einen anderen Weg. «Wenn jemand den Laden übernehmen könnte, wäre das schön», sagt Sybille Kaufmann. Doch auch sie weiss, dass dann alles anders wäre. Dass man diese Mischung aus bester Beratung zu Bachkantaten und Lohengrin und aus der Energie eines Stones-Albums nicht kopieren kann. «Noch wollen wir nicht darüber nachdenken», sagen die beiden Frauen, die beide gegen die sechzig Jahre gehen. Und schon legt eine Kundin, die nur kurz vorbeischauen wollte in ihrem Laden von früher, vier CDs auf den Tresen.