Die Chilbi übt bis heute eine magische Anziehungskraft aus, doch den Schaustellern fehlt der Nachwuchs – die 25-jährige Rahel Zanolla ist die Ausnahme Seit über hundert Jahren tourt die Familie Zanolla von einem Jahrmarkt zum nächsten. Wie steht es um die Schausteller in der Schweiz? Ein Besuch an der Luzerner Herbstmääs.
Seit über hundert Jahren tourt die Familie Zanolla von einem Jahrmarkt zum nächsten. Wie steht es um die Schausteller in der Schweiz? Ein Besuch an der Luzerner Herbstmääs.
Das Tickethäuschen erinnert ein wenig an einen Abstellraum. In einer Ecke stehen Kühlschrank und Kaffeemaschine, in einer anderen ein alter Computer. Zwei Hunde balgen herum, Einstein und Maite. Rahel Zanolla sitzt am Ticketschalter. Vor ihr breitet sich der Autoscooter namens Hollywood Drive aus. Eine bunte Traumwelt aus Licht und Lärm, aus Glitzer und Glanz, gesteuert von Zanolla.
Einer der Knöpfe lässt ein Horn erklingen, einer setzt Nebel frei, andere regeln Geschwindigkeit und Licht. Ein Mischpult für Spezialeffekte – und Zanolla als Spasstechnikerin, die alles im Auge hat: die Knöpfe, die Zeit, die Kunden in den Autos, die Kunden in der Schlange, die Jetons, die Playlist, ihre Angestellten. «Multitasking ist das Wichtigste», sagt sie.
Zanolla ist 25 Jahre alt und eine Ausnahmeerscheinung in einer Welt, die überaltert wirkt. Vergangenes Jahr wurde Zanolla von der «Luzerner Zeitung» als «jüngste Chilbi-Chefin der Schweiz» bezeichnet. Als sogenannte Schaustellerin tourt sie von Frühling bis Herbst von einem Jahrmarkt zum nächsten, wobei die Herbstmääs ein Heimspiel ist: Zanolla wohnt in Luzern, wo ihr Familienname vielen ein Begriff ist: Die Zanollas spielen seit über hundert Jahren an Chilbenen, Rahel Zanolla führt den Familienbetrieb in vierter Generation.
Dabei war alles ganz anders geplant. Ihre Geschichte erzählt von einer Not, die die ganze Schaustellerbranche erfasst hat.
«Der Vater mag nicht mehr»
Lange Zeit schien die Thronfolge in der Zanolla-Dynastie geklärt. Louis, der Halbbruder von Rahel, sollte den Familienbetrieb dereinst vom Vater Eugen übernehmen. Louis arbeitete bereits mit und kaufte 2003 sein erstes Geschäft. Doch 2010 starb er an einer Hirnblutung. Ein Schicksalsschlag, der die Zanollas lange beschäftigte. Und das Ende zu sein schien für den Familienbetrieb.
Rahel Zanolla ist zwar mit der Chilbi aufgewachsen, an den Wochenenden half sie mit, verkaufte Billette und zog Jetons ein. Aber als Jugendliche ging sie in den Ausgang und auf Reisen. Und irgendwann nicht mehr an die Chilbi. Nach der Schule absolvierte sie eine Lehre als medizinische Praxisassistentin und blieb im Beruf.
Dann kam das Coronavirus und frass dem Familienbetrieb die Ersparnisse weg. Der Vater Eugen verkaufte das Kinderkarussell. «Wieso, was soll das?», fragte Rahel Zanolla beim Znacht. «Wir haben keine Nachfolger, und der Vater mag nicht mehr», sagte die Mutter. Also sprang Rahel mit ihrem Verlobten ein. Nach einem Jahr Probezeit übernahmen sie das Geschäft. Aber der Nachwuchs ist nicht nur bei den Zanollas knapp.
Alle sieben Tage reisen sie weiter
André Broch ist Präsident des Schaustellerverbandes Schweiz. Er sagt, viele Schausteller hätten während der Pandemie zwar Überbrückungsgelder erhalten. «Aber in jener Zeit nutzten viele die Möglichkeit, um aufzuhören.» Sie waren alt geworden, hatten Mühe, Personal zu finden, und hätten ihre Bahnen wegen Standschäden teuer restaurieren müssen.
Zwar lägen keine detaillierten Zahlen vor, doch Broch schätzt, dass es heute noch über 500 Schaustellerinnen und Schausteller in der Schweiz gibt – Tendenz sinkend. Die Generation der 30- bis 40-Jährigen fehle komplett. «Die Kinder der Schausteller üben andere Berufe aus und wollen nicht ständig herumreisen.»
Rahel Zanolla ist jährlich neun Monate lang unterwegs. Wenn sie nicht gerade in der Umgebung von Luzern spielt, übernachtet sie im Wohnwagen. Meistens bleibt sie sieben Tage an einem Ort: Zwei Tage gehen für den Transport und den Aufbau drauf, drei Tage fürs Spielen, zwei Tage für den Abbau und den Abtransport. Will heissen: vier Tage Arbeit, um drei Tage Geld verdienen zu können.
Regentage sind deshalb schlechte Tage, weil der Umsatz um etwa einen Drittel sinkt. Über konkrete Zahlen schweigt sich die Branche aus. Es gibt nur die Kategorien «super», «gut», «recht» oder «schlecht». Und dieses Jahr war das Wetter häufig schlecht.
Zudem nehme die Bürokratie zu, sagt Rahel Zanolla. Am Aufbau beteiligte Mitarbeiter müssten mit monatelanger Vorlaufzeit angemeldet werden. Nachttransporte, Stromanschlüsse, Versicherungen, alles brauche Bewilligungen.
Noch immer derselbe Geist
Teils hängen diese Bewilligungen laminiert im Tickethäuschen. Es hat etwas Improvisiertes. Vielleicht geht es nur so, wenn man ständig unterwegs ist, ständig zwischen Aufbau und Abbruch pendelt. Und dazwischen blinkt die Illusionsmaschine.
Es ist ein extremes Leben, das extreme Menschen schon seit Jahrzehnten anzieht. 1979 begleitete das Schweizer Fernsehen den Schausteller Mario Trottmann an der Chilbi in Neuhausen im Kanton Schaffhausen. Trottmann war damals etwa Mitte 20, trug Tattoos und ein ärmelloses T-Shirt. Im Beitrag machte er waghalsige Manöver auf dem schnellen Karussell. Erst im letzten Moment sprang er jeweils auf einen der Wagen, um nicht in die Wand neben dem Tunnel zu prallen.
Diese «Show» habe er «hauptsächlich für die Frauen» gemacht, sagte Trottmann im Video. Die Chilbi von damals wirkt laut und bunt. Junge Männer und junge Frauen, die sich scheinbar Blicke zuwerfen. «Damals war man an der Chilbi jemand», sagte der Chilbi-Cowboy Trottmann Jahre später mit ein bisschen Wehmut zum Schweizer Fernsehen. Und er könne sich nicht vorstellen, dass Manöver, wie er sie gemacht habe, heute noch möglich seien.
Rahel Zanollas Mutter, die 54-jährige Lisa Zanolla, hat nun die Kasse übernommen (das Klimpern der Münzen, das Rascheln des Säckli mit den Jetons drin). Sie sagt, der Geist sei derselbe, die Chilbi noch immer ein Ort des Kennenlernens, der Anfänge. «‹Hey, willst du mal mit mir Butschauto fahren?› Oder: ‹Schau, da ist er wieder, der ist herzig›», solche Sätze höre sie noch heute. Lisa Zanolla lacht diebisch: «Die Kunden hören nicht, was wir im Tickethäuschen sagen. Aber wir hören, was sie sagen.»
Einmal wurden die Zanollas für einen Hochzeitsapéro gebucht, weil sich das Paar beim Autoscooter kennengelernt hatte. «Und dann ist die Braut mitsamt dem weissen Hochzeitskleid in den Scooter gestiegen und losgefahren.»
Eine Bahn kostet bis zu fünf Millionen Franken
Lisa Zanolla ist SVP-Kantonsrätin in Luzern und hat sich während der Corona-Pandemie für die Anliegen der Schausteller eingesetzt. Im Familienbetrieb engagiert sie sich noch immer. Sie ist ausgestattet mit der handfesten Sprache, die man sich im jahrzehntelangen Kundenkontakt offenbar aneignet. Geradeheraus und doch charmant. Sie spricht von Bolzen und Elektrik, von Magnetbremsen. Sie ist ein Technik- und Spassprofi.
Vor ihr kollidieren die Autos, die Kinder spicken zurück. In den jungen Gesichtern: Lachen und leichter Schrecken. Im Hintergrund läuft «It’s Raining Men». Es gibt eine Playlist für den Morgen («Siebziger, Achtziger, Schlager, weil viele Grosseltern mit ihren Enkelkindern kommen») und für den Abend («Hip-Hop und Techno für die Teenager»).
Vielleicht ist die Zeit an der Chilbi tatsächlich ein bisschen stehen geblieben. Die Zanollas haben den Hollywood Drive mit Schauspielern bemalt, mit Richard Gere und Julia Roberts. «Pretty Women» ist ein Film aus den Achtzigern. «Purple Rain» läuft jetzt. Der Chilbi-Cowboy würde sich wohlfühlen.
Der Schaustellerpräsident Broch sagt: «Vielleicht ist das Nostalgie. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass viele Schaustellerinnen und Schausteller eben älter sind. Sie könnten die Bahnen neu sprayen, klar. Aber das kostet schnell einmal 500 000 Franken.»
Schaustellen ist ein teures Business: Eine neue Bahn kostet zwischen einer Million und fünf Millionen Franken, in «füdlibluttem» Zustand, wie Broch sagt. «Dann kommen noch Lichter, Lastwagen, Tickethäuschen dazu.» Oder die Scooter. Der Preis: über 8000 Franken pro Stück.
Die Last der Kosten, dieses extremen Lebens, die trägt nun Rahel Zanolla zusammen mit ihrem Verlobten. Das Paar ist für vier Bahnen und zehn Mitarbeiter verantwortlich, einige davon kommen Jahr für Jahr aus Polen. Rahel Zanolla sagt, ihr gefalle der Job, er sei vielseitig. «Aber wahrscheinlich stand mir mein Ego im Weg. Ich war zu stolz, um diese Dynastie eingehen zu lassen.»
Rahel Zanolla führt die Dynastie nun weiter. Die Magie der Chilbiwelt will einfach nicht verblassen. Ihr Vater hat die Leitung mit über 70 abgegeben, ihr Grossvater mit 77. Wie lange bleibt sie?