Ein Flüchtling aus der Moldau steigt in den 1920er Jahren zu Zürichs Kult-Parfümeur auf, heute stehen die Kunden bei seiner Enkelin Schlange Wie es eine kleine Parfümerie schafft, sich trotz steigenden Mieten und Konkurrenz durch Online-Shops an der Zürcher Bahnhofstrasse zu halten.
Wie es eine kleine Parfümerie schafft, sich trotz steigenden Mieten und Konkurrenz durch Online-Shops an der Zürcher Bahnhofstrasse zu halten.
Seit kurzem stehen am Samstag vor dem Eingang der Parfümerie Osswald an der Bahnhofstrasse regelmässig die Kunden Schlange. Ein Sicherheitsmann regelt den Einlass – damit sich die Kunden nicht gegenseitig auf die Füsse stehen in dem kleinen Geschäft.
Etliche Traditionsunternehmen sind in den vergangenen zehn Jahren von der Bahnhofstrasse verschwunden, weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen konnten. Der Schmuckladen Türler und das Schreibwarengeschäft Landolt-Arbenz zogen weg, Manor schloss die Türen, und Jelmoli wird 2024 ebenfalls von der Zürcher Einkaufsmeile verschwinden. Tanja Dreiding Wallace, die Besitzerin der Parfümerie Osswald, hat sich für die gegenteilige Strategie entschieden. Sie hat den Laden beim Paradeplatz ausgebaut – trotz steigenden Mietpreisen. Sie sagt: «So konnten wir die Parfümerie retten.»
Als Dreiding Wallace 2013 die Parfümerie von ihrer Mutter übernahm, bekam sie unzählige Anfragen, ob sie die Ladenfläche nicht abgeben wolle. Ob sie sich nicht etwas Günstigeres suchen wolle, im Niederdorf vielleicht oder im Kreis 5. Dreiding Wallace sagt: «Ich war besorgt, dass uns viele Kunden nicht mehr finden. Die gute Lage ist wichtig für unser Weiterbestehen.»
Also blieb sie an der Bahnhofstrasse und mietete weitere Flächen im Gebäude an, das der Swiss Life gehört. Sie renovierte den Laden, damit er weniger verstaubt und versnobt wirkt, und setzte mit Selma Zühre auf eine damals erst 24-jährige Geschäftsführerin. Der Plan, so mehr junge Leute anzusprechen und ihnen die Furcht davor zu nehmen, die Parfümerie zu betreten, ging auf. «Heute können wir aufschnaufen, es funktioniert, wenn auch der Profit bescheiden ist.»
Wäre alles nach Plan gelaufen, gäbe es die Parfümerie Osswald heute gar nicht. Dreiding Wallace’ Grossvater wuchs Ende des 19. Jahrhunderts in der Moldau auf und träumte von einer eigenen Parfümerie in Paris. Auf der Reise nach Frankreich wurde er 1914 verhaftet. Es tobte der Erste Weltkrieg, und Dreiding kam in Deutschland in Kriegsgefangenschaft. Nach einem Jahr wurde er aus gesundheitlichen Gründen abgeschoben in die Schweiz.
Der einzige Besitz, den er bei der Ankunft in der Schweiz bei sich hatte, waren selbst ausgetüftelte Rezepte für Parfums und Crèmes, die er sich in ein Jackett eingenäht hatte. In Zürich fand er eine Stelle in einem Kolonialwarengeschäft am Kreuzplatz. Der Besitzer Ernst Osswald stellte ihn als Flaschenreiniger ein. Und der Chef erkannte bald das Talent des gelernten Drogisten Dreiding. Er übergab ihm die Verantwortung für die Drogerieabteilung. Und später unterstützte er ihn bei der Gründung des eigenen Geschäfts. 1921 konnte Dreiding so an der Bahnhofstrasse 24 eine Parfümerie eröffnen – aus Dankbarkeit benannte er sie nach seinem Mentor Osswald.
Wenige Jahre später brachte Dreiding eine eigene Produktelinie auf den Markt – sie basierte auf den Rezepten, die er einst in seine Jackett-Tasche eingenäht hatte. Eine nach Mandeln duftende Handcrème aus der Serie steht noch heute in den Regalen der Parfümerie Osswald – auch wenn das Unternehmen, das sie produziert, inzwischen nicht mehr der Familie Dreiding gehört. «Wir hängen sehr daran», sagt Ruby-Stella Stevens, die Marketingchefin von Osswald. Sie ist die Nichte von Tanja Dreiding Wallace und die Urenkelin des Gründers.
Stevens ist vor zwei Jahren in die Keller und auf die Estriche ihrer Verwandten gestiegen, hat Fotoalben durchgeblättert auf der Suche nach Unterlagen und Fotos aus den Anfängen der Parfümerie. Nun präsentiert sie diese auf der Homepage und in den sozialen Netzwerken. «Uns ist es wichtig, dass die Kunden unsere Geschichte kennenlernen», sagt Stevens.
Tanja Dreiding Wallace sagt, die Parfümerie profitiere heute von Entscheidungen, die ihre Mutter in den neunziger Jahren getroffen habe. Als allerorts Parfümerieketten wie Pilze aus dem Boden schossen, entschied sie sich, auf Nischenprodukte zu setzen. Auf Düfte, die es sonst nirgends in Zürich zu kaufen gibt. Diese Exklusivität kommt nun besonders bei der Generation Z gut an. Individualität anstatt Trendprodukt – das gilt offenbar auch für den eigenen Duft. Dafür sind junge Zürcherinnen und Zürcher bereit, mehrere hundert Franken zu bezahlen.
«In New York ist das anders», sagt Dreiding Wallace, sie lebt seit mehr als zwanzig Jahren in der amerikanischen Metropole und ist alle zwei Monate im Laden in Zürich. Die jungen Amerikaner seien weniger bereit, Geld auszugeben für Düfte und Pflege, eher sparten sie auf eine Schönheitsoperation. Trotzdem wagt Dreiding Wallace nun zum zweiten Mal, in New York eine Osswald-Filiale zu eröffnen. Die erste Filiale in Soho musste im Sommer 2020 wegen der Pandemie schliessen. Ein neues Lokal in Nolita hat Dreiding Wallace bereits gefunden, nun wartet sie nur noch auf die Bewilligung der Stadt. Klar ist, die New Yorker Filiale wird kleiner sein als das Geschäft an der Bahnhofstrasse.
In Zürich führt eine Treppe im Laden hinunter in einen Spa. Er existiert seit 1980. Dreiding Wallace erinnert sich, wie sie als Fünfjährige während der Umbauarbeiten mit dem Vater in den Keller gestiegen ist und er zu ihr sagte: «Das wird alles einmal dir gehören.» Bei der Eröffnung führte die Fünfjährige die Presseleute stolz durch den Spa. Ab da war für sie klar, dass sie die Parfümerie irgendwann übernehmen will.
3000 Düfte stehen in den Regalen der Parfümerie Osswald. Einer von ihnen ist besonders. Er riecht nach Mandeln und einem Hauch Vanille. Ein Parfumunternehmen aus Italien hat ihn exklusiv für die Parfümerie Osswald entwickelt, basierend auf den Rezepten, die Boris Dreiding einst bei seiner Flucht in die Schweiz eingeschleust hat.