Das leere Raumschiff von Ebikon: Warum ist nichts los in der Mall of Switzerland? Dunkle Ladenflächen, kaum Kundschaft: Das zweitgrösste Shoppingcenter der Schweiz kämpft ums Überleben. Eine Reportage.
Dunkle Ladenflächen, kaum Kundschaft: Das zweitgrösste Shoppingcenter der Schweiz kämpft ums Überleben. Eine Reportage.
Vor dem Eingang der Mall of Switzerland in Ebikon stehen Dutzende Tische und Stühle. Kaum ein Platz ist besetzt. Zwei Frauen sitzen in der Sonne und trinken Kaffee, bald beginnt ihre Schicht. Daneben: eine Schiefertafel, auf der eine Gelateria für Glühwein wirbt.
Die Mall of Switzerland, das zweitgrösste Shoppingcenter der Schweiz, sie steht am östlichen Rand der Luzerner Agglomeration, dort, wo das städtische ÖV-Netz endet, wo Mehrfamilienhäuser neben Industriebauten stehen. Sie ist ein glänzend weisser Koloss, ein Raumschiff, parkiert zwischen Bahngleisen und Schnellstrassen.
Im Inneren der Mall bewegt sich die Rolltreppe erst, wenn sie jemand betritt. Die Verkäuferinnen und Verkäufer in den Läden stehen herum, scrollen über ihre Smartphones, telefonieren, facetimen, planen eine Geburtstagsfeier. Aus den Boxen klingt trashig-fade Pop-Musik. In einer Ecke unter einer Treppe macht ein Mann ein Nickerchen.
Bei der Eröffnung der Mall of Switzerland im Jahr 2017 sagten Experten der «Luzerner Zeitung», ein Einkaufszentrum dieser Grösse müsse jährlich 400 Millionen Franken Umsatz machen, um profitabel zu sein. Der letzte Bericht des Branchenverbandes der Schweizer Shoppingcenter zeigt, dass die Mall davon weit entfernt ist: 2020 hat sie nur 218 Millionen Franken Umsatz gemacht.
In der Schweiz gibt es 195 Shoppingcenter. Eine hohe Zahl für ein kleines Land. Detailhandelsexperten sagen, der Markt sei schon lange gesättigt.
Viele der grossen Shoppingcenter der Schweiz bangen heute um die Zukunft. Um mehr Kundschaft, attraktive Ladenmieter, um neue Perspektiven. Die Menschen kaufen anders ein als vor zwanzig oder dreissig Jahren, sie shoppen online. Im Jahr 2015 kauften Konsumentinnen und Konsumenten in der Schweiz für 7 Milliarden Franken Waren im Internet ein. Bis heute hat sich die Zahl mehr als verdoppelt.
Die Corona-Pandemie hat den Strukturwandel beschleunigt. Das Leben findet vermehrt zu Hause statt, im Home-Office, vor dem Computer. Und: Die Menschen in der Schweiz konsumieren laut Bundesamt für Statistik immer weniger. Die Ausgaben für Bekleidung und Lebensmittel sind in den letzten zehn Jahren gesunken.
Ein Bericht des Branchenverbandes Swiss Council of Shopping Places zeigt: Im Jahr 2020 verloren die dreissig umsatzstärksten Shoppingcenter insgesamt 575 Millionen Franken Umsatz. Seither publizieren die Center ihre Zahlen nicht mehr.
Die grosse Leere
Im zweiten Stock der Mall of Switzerland starrt Gjeke Avgustini den ganzen Tag eine riesige, leere Ladenfläche an. Avgustini ist Inhaber eines Geschenkeladens, verkauft teure Weine, Geschenkkörbe mit Olivenöl und Pesto, üppige Dekoration. Gegenüber von Avgustini befand sich bis vor ein paar Wochen ein Laden der italienischen Modekette Terranova. Doch der ist jetzt ausgezogen.
Gjeke Avgustini ist seit der Eröffnung Mieter in der Mall. Endlich einen Laden in Ebikon, habe er sich damals gedacht. Er wohnte in Ebikon, sein Geschäft hatte er aber einige Ortschaften weiter, in Hochdorf. «In den ersten Wochen nach der Eröffnung war in der Mall viel los», sagt er. Die Leute schauten sich um. Und kamen nicht wieder.
Gjeke Avgustini, grauer Rolli, graue Haare, sagt: «Ich werde die Mall nicht verlassen. Ich gebe nicht auf.» Er habe noch eine Website, da verkaufe er Dinge und mache etwas Umsatz. Er zeigt auf zwei Pakete, die er vor seinem Laden deponiert hat, um sie später zur Post zu bringen. Ein Ein-Mann-Online-Shop, betrieben aus der Shoppingmall.
Esther Wiss, 67 Jahre alt, aus Inwil, beisst in ihr Sandwich und sagt: «Ich komme wegen der Zugverbindung.» Inwil sei schlecht angeschlossen, deshalb mache sie hier halt. Der Bahnhof Buchrain liegt direkt hinter der Mall. Von dort aus fahren regelmässig Züge nach Luzern, Rotkreuz, Zug. Die Mall als völlig überdimensionierter Warteraum.
Viele Menschen in der Mall wollen gar nichts kaufen. Bauarbeiter und Handwerkerinnen holen bei der Confiserie Bachmann einen Znüni, Frauen mit Rollatoren treffen sich zum Kaffee, Menschen mit Sporttaschen laufen an den Läden vorbei in Richtung Fitnesscenter. «Ich arbeite hier», antwortet eine junge Frau auf die Frage, weshalb sie an diesem Freitag in Ebikon sei. Und: Zum Shoppen gehe man besser ins Emmen-Center.
Das Emmen-Center, 1975 eröffnet und 20 Minuten Autofahrt von der Mall of Switzerland entfernt, ist die grösste Konkurrentin in der Region. Das Center hatte Jahre Zeit, sich zu etablieren.
Von Beginn an zu spät
Die Idee, in Ebikon ein Shoppingcenter zu bauen, entstand um die Jahrtausendwende. Die Schindler AG, ein Liftbau-Unternehmen, wollte Land loswerden. Damals hiess das Projekt «Ebisquare». Doch eine Genfer Firma, die investieren wollte, stieg nach einigen Jahren aus. Der Ebisquare wurde nie gebaut.
2011 lancierte eine Zürcher Baufirma das Projekt unter dem Namen «Mall of Switzerland» neu und suchte Investoren. 2014 sagte der Staatsfonds von Abu Dhabi zu. Drei Jahre lang wurde gebaut, dann war die Mall endlich da. Nach sechzehn Jahren. In der Zwischenzeit hatten die Menschen das Online-Shopping entdeckt.
Als Jan Wengeler die Mall of Switzerland im November 2017 als Direktor eröffnete, war er überzeugt vom «überwältigenden Angebotsmix» mit Restaurants, Shops, Kino, Surfwelle. Doch viele Einheimische nervten sich über den neuen Koloss von Ebikon: weil die Migros ein beliebtes Einkaufszentrum im Zentrum verliess, um in die Mall zu ziehen. Auch die Lokalmedien waren skeptisch. Bei der Eröffnung im November 2017 standen 20 der 125 Laden- und Gastroflächen leer.
Das allererste grosse Shoppingcenter der Schweiz war das Shoppi in Spreitenbach im Kanton Aargau. 1970 war die Eröffnung, und die Menschen kamen in Scharen. Im Shoppi wurde das schweizerische Einkaufen zum amerikanischen Konsumerlebnis frisiert. Man konnte «shoppen», damals war das die Zukunft. Die Mall of Switzerland hingegen war von Anfang an zu spät.
Vor einem halben Jahr feierte die Mall ihr fünfjähriges Bestehen. 40 der Laden- oder Gastroflächen standen leer. Doppelt so viele wie bei der Eröffnung. Einige grosse Mieter sind treu, Ochsner Sport, C&A, die Drogerie Müller. Aber viele andere, kleinere Läden sind gegangen. Auch grosse Namen wie Adidas, Swarovski oder Salt gaben auf. Zweimal haben die Center-Betreiber seit 2017 gewechselt. Zweimal musste die Geschäftsleitung neu besetzt werden.
«Dieses Haus ist ein totes Haus»
Martin Winkler, im Pensionsalter, steht im Erdgeschoss der Mall of Switzerland hinter einer Theke mit südamerikanischen Teigtaschen. Er telefoniert. Und sagt dann, er störe sich daran, dass er sich an die Öffnungszeiten der Mall halten müsse. Am Dienstagmorgen um 9 Uhr wolle niemand Empanadas essen. Trotzdem muss Winkler wochentags von 9 Uhr morgens bis 19 Uhr abends Empanadas verkaufen, samstags von 8 bis 17 Uhr. Er sagt, der Laden mache nur am Freitag oder Samstag Umsatz.
Ein Laden im Emmen-Center, das wäre was, sagt Martin Winkler. Da sei noch was los. Und man könne umsonst parkieren.
Winkler wippt hin und her. «Dieses Haus ist ein totes Haus», sagt er. Und dann: «Ich bin total unterfordert.»
Herr Avgustini macht Online-Vertrieb in der Mall, weil nichts läuft. Frau Wiss wartet nur auf den Zug. Herr Winkler wird seine Empanadas nicht los. Was läuft schief in der Mall of Switzerland?
Eine Marketing-Mitarbeiterin der Mall schreibt nach mehreren Anfragen, sie könne keine konkreten Umsatz- oder Besucherzahlen nennen. «Wir kommunizieren, dass wir mit der Entwicklung der Frequenzen auf dem richtigen Weg sind.» Und die vielen leeren Ladenflächen? Ein modernes Einkaufszentrum unterliege einem ständigen Wechsel. Und: «Handel ist Wandel.»
Wenn nichts passt
Die Mall of Switzerland hat 65 000 Quadratmeter Mietfläche, sie ist für fünf Millionen Besucherinnen und Besucher pro Jahr konzipiert. Gianluca Scheidegger, der am Gottlieb-Duttweiler-Institut zu Konsum und Handel forscht, sagt: «Eine Mall dieser Grösse braucht enorm viele Kundinnen und Kunden, um profitabel zu sein.» Das Einzugsgebiet rund um die Mall sei jedoch, verglichen mit urbanen Einkaufszentren wie dem Sihlcity oder dem Glattzentrum in Zürich, eher klein.
Auch die Öffnungszeiten im Kanton Luzern erschweren es der Mall, gutes Geschäft zu machen. Während die Mall am Samstag, wenn die meisten Leute ins Einkaufszentrum kommen, bereits um 17 Uhr schliessen muss, hat etwa das Glattzentrum in Zürich bis 20 Uhr geöffnet. Gianluca Scheidegger sagt: «Ein Erlebnistag mit Shoppen, Essen, Kino wird durch die Öffnungszeiten unterbrochen.»
Scheidegger geht davon aus, dass die Betreiber der Mall of Switzerland auch Touristen anlocken wollten. Vor der Pandemie kam über die Hälfte des Gastro- und Detailhandelsumsatzes in der Stadt Luzern vom Tourismus. Doch für Touristen hat die Mall of Switzerland wenig zu bieten. Erstklassige Mode- oder teure Uhrenläden gibt es nicht, auch keine Souvenirshops. Es hat nicht einmal einen Zara, den Lieblingsladen eines jugendlich-urbanen Milieus, das wenig Geld hat, aber sich für Mode und Trends interessiert.
Die Mall bietet, was der Schweizer Mittelstand kauft: Drogerie Müller, Ochsner Sport, Chicorée, Dosenbach, Mode Bayard, Cecil, C&A. Diese Läden gibt es im Zentrum jeder Schweizer Kleinstadt und in jeder grösseren Bahnhofspassage. Das Angebot der Mall of Switzerland ist zu wenig exquisit. Und gleichzeitig ist die Mall zu wenig lokal.
Expertinnen und Experten sind sich einig: Um zu überleben, müssen Einkaufszentren heute für die Menschen in der Umgebung nützlich sein. Martina Kühne, die sich als Trend- und Zukunftsforscherin mit den menschlichen Bedürfnissen im digitalen Zeitalter auseinandersetzt, sagt, dass sich unser Bewegungsradius mit der Pandemie verkleinert habe, wir weniger unterwegs seien, weniger einkauften. Ein Shoppingcenter müsse in die Region eingebettet sein, ins Quartier: «Das Einkaufszentrum der Zukunft ist lokal ausgerichtet.»
Lokales läuft gut
Tatsächlich laufen kleine, lokal ausgerichtete Center nach wie vor sehr gut. «Das Bedürfnis, unter Menschen zu sein, zusammenzukommen, das ist trotz Online-Handel immer noch da», sagt Martina Kühne. Und: In einer Gesellschaft, die immer älter wird, werden gesundheitliche Dienstleistungen immer wichtiger. Zudem zählen Bequemlichkeit, Komfort, Sicherheit.
Martina Kühne sagt: «Wenn ein Shoppingcenter einmal in einer Abwärtsspirale landet, findet es da schwer wieder heraus.» Zuletzt bleibt «die radikale Transformation», sagt Martina Kühne. Aus der Mall of Switzerland könnte man ein Distributionszentrum machen, eine Schule. Auch ein Gesundheitscenter, eine urbane Farm oder Wohnungen wären vorstellbar. Das Stücki in Basel zum Beispiel hat zusätzlich Büro- und Laborgebäude gebaut, als die Läden nicht mehr liefen.
Die Mall of Switzerland hingegen zeigt, was passiert, wenn nichts zusammenpasst: Dimension, Lage, Angebot.
Das Problem, wenn man die Mall of Switzerland umnutzen wollte: das Geld. Die Investoren müssten bereit sein, noch einmal zu zahlen. Und die Anwohner müssten zustimmen. Aber was will denn Ebikon eigentlich?
Daniel Gasser ist seit elf Jahren Gemeindepräsident. Er hat den Bau der Mall begleitet, war bei der Eröffnung dabei, kauft selbst im Migros-Laden in der Mall ein. «Da sehe ich am Samstagmorgen viele Ebikonerinnen und Ebikoner», sagt er.
Gasser weiss, dass das Projekt von Beginn an umstritten war. Aber heute will er optimistisch sein. «Die Mall hat viel Gutes», sagt er. Dann schweigt er eine Weile. «Das Freizeitangebot beispielsweise, das Fitnesscenter. Das Eisfeld im Winter.» Und: «Für Ebikon und das ganze Rontal wäre es schlimm, würde die Mall als wichtige Arbeitgeberin verlorengehen.»
Es scheint, als wehre sich Gasser dagegen, die Mall of Switzerland aufzugeben. Aber was passiert mit einer Mall, die sich nicht mit Leben füllen lässt? Ziehen bald die letzten Läden aus? Oder kommt irgendwann der grosse Umschwung?
In den USA gibt es Dutzende sogenannte «dead malls». Leerstehende Einkaufszentren, die zu Ruinen verkommen, weil man sie irgendwann doch aufgegeben hat.
Ein älterer Herr steht jetzt mitten in der Mall. Er ist zum ersten Mal hier. «Eigentlich ist das alles sehr schön gemacht», sagt er. «Aber warum ist dieses Gebäude so gross?»
Und eine junge Frau, die das Geschäft der spanischen Fast-Fashion-Kette Mango mit einer Einkaufstüte verlässt, sagt: «Dreimal im Jahr komme ich hierher. Weil nichts los ist. Und ich in Ruhe shoppen kann.»