Warum verkauft man sein Lebenswerk an Nestlé, Herr und Frau Lemcke? Die Gewürzfirma Ankerkraut war eine Startup-Erfolgsgeschichte aus dem Bilderbuch. Sie hatte keine Kunden, sondern Fans. Jetzt verkauft das Gründerehepaar das Unternehmen ausgerechnet an den Schweizer Lebensmittelgiganten Nestlé.

Die Gewürzfirma Ankerkraut war eine Startup-Erfolgsgeschichte aus dem Bilderbuch. Sie hatte keine Kunden, sondern Fans. Jetzt verkauft das Gründerehepaar das Unternehmen ausgerechnet an den Schweizer Lebensmittelgiganten Nestlé.

 

Stefan und Anne Lemcke, die Gründer von Ankerkraut – bekannt aus der TV-Sendung «Die Höhle der Löwen». (Bild: Dirk Bruniecki / NZZ)

Dass der Weltkonzern Nestlé aus Vevey im Kanton Waadt eine verachtenswerte Firma ist, darüber ist man sich in der deutschen Youtube- und Twitter-Szene einig. Stellvertretend für Nestlé bekommen das gerade Stefan und Anne Lemcke zu spüren. Die beiden sind Deutschlands bekanntestes Startup-Ehepaar.

Die quirligen Norddeutschen gehörten zu den Publikumslieblingen der Investorenshow «Die Höhle der Löwen» 2016. Ihre Gewürzfirma Ankerkraut, gegründet in der heimischen Küche, wuchs im Schnellzugtempo zum Millionenbusiness mit 250 Angestellten und geschätzten 50 Millionen Euro Jahresumsatz. Ankerkraut ist heute in sieben Ländern erhältlich, auch in der Schweiz. Die Firma hat keine Kunden, sie hat Fans. Bis jetzt war Ankerkraut, was man in der Marketing-Sprache eine «Love Brand» nennt.

Doch nun wagten es die Lemckes, ihr Geschäft an Nestlé zu verkaufen. Geschätzte 150 Millionen Euro soll der Deal wert sein. Stefan und Anne Lemcke bleiben an Bord. Ihre Firma gehört nun aber zu 80% dem Nahrungsmittel-Multi. Die Kritik, die seither in den sozialen Netzwerken auf die beiden Startup-Gründer einprasselt, ist gnadenlos. Grund sind die bekannten Nestlé-Skandale: etwa dass der frühere Nestlé-Chef Peter Brabeck vor zehn Jahren erklärte, der Zugang zu Wasser sei kein Menschenrecht. Oder dass Nestlé in den 70er und 80er Jahren Babymilchpulver in Entwicklungsländer offensiv vermarktete – und danach viele Kleinkinder an verunreinigtem Wasser starben.

Reihenweise kündigten Influencer – Ankerkraut bewirbt seine Produkte gern mit Internetgrössen auf der Gamer-Plattform Twitch sowie anderen Netzwerken – die Zusammenarbeit auf. Der bekannteste von ihnen ist der Youtuber LeFloid, der auch schon das Privileg hatte, Angela Merkel zu interviewen.

Mit einer gewissen Distanz zur deutschen Internetsphäre haben Stefan und Anne Lemcke die Diskussion verfolgt. Sie sind mit den zwei Kindern für ein Jahr nach Mallorca gezogen. «Verlängerter Urlaub», wie Stefan Lemcke sagt. Um abzuschalten und sich neu auszurichten. Von dort schalten sie sich per Videocall zu.

Sie hätten sich gut und gründlich über Nestlé informiert, beteuern Stefan und Anne Lemcke. «Wir sind uns klar darüber, dass es in der Vergangenheit vereinzelt Kritikpunkte gab – wie an jedem global agierenden Unternehmen.» Man habe die Kritik der Community zum Teil vorausgesehen. «Dennoch gehen die Reaktionen natürlich nicht spurlos an uns vorbei.»

Kitkat, Nespresso, Ankerkraut

Mit Ankerkraut kauft sich Nestlé eine Premiummarke ein. Ein Döschen Gewürz kostet schnell einmal 10 Franken. Mischungen gibt es für alle möglichen Gerichte: Lasagne, Cevapcici, Kohlbouillon. Hinzu kommen Fleisch-Rubs, Tees und eine Menge Spezialgewürze, etwa für Menschen, die wegen Corona ihren Geschmackssinn verloren haben.

Noch vor ein paar Jahren wussten die Lebensmittelläden nichts mit Ankerkraut-Produkten anzufangen. Das liegt an der hiesigen Kochkultur. In unseren Breitengraden kommt das Aroma beim Kochen von einzelnen Gewürzen, nicht von auf einer auf ein Gericht zugeschnittenen Mischung. Dass Gewürzmixturen in anderen Weltgegenden die Basis fürs Kochen sind, lernte Stefan Lemcke als Kind. Sein Vater war Entwicklungshelfer, der mit der Familie in Sambia und Tansania lebte. «Dort habe ich unserem Koch immer zugeschaut, wie er diese Gewürzmischungen selber machte», sagt Lemcke.

Als junger Erwachsener fing Lemcke an, seine eigenen Mischungen für den Heimbedarf zu mörsern. Er kochte gern, und die Mixturen erleichterten das Leben in der Küche. Es war Jahre später seine Frau Anne, die auf die Idee kam, daraus ein Geschäft zu machen. «Stefan wollte immer ein eigenes Produkt herstellen. Ich hab zu ihm gesagt: Verkauf doch deine Gewürze!», sagt sie. «Da wussten wir sofort: Das ist es!», sagt er.

Dieser Geistesblitz hat Anne und Stefan Lemcke reich und berühmt gemacht. Ihre Firma ist eine Startup-Erfolgsstory, wie man sie sonst nur aus Amerika kennt. Innert neun Jahren wurde aus dem kleinen Online-Shop eine Nestlé-Marke, die im Portfolio neben Kitkat, Nespresso oder San Pellegrino steht. Dies fühle sich grossartig an, sagen die Gewürzunternehmer. Nestlé würde seine Marken mit grosser Leidenschaft pflegen.

Die Frage, die sich aber stellt, ist: Warum wollen die Lemckes die von ihnen aufgebaute Marke nicht selbst weiterentwickeln? Warum verkaufen sie ihr Lebenswerk? Und warum jetzt?

Vielleicht weil Träume keine statischen Grössen sind, sondern mit den Ambitionen mitwachsen. Und der Traum, wenn man nicht aufpasst, auch über einen hinauswachsen kann, bis er einen zu erdrücken droht.

80-Stunden-Woche war die Regel

«Meine Eltern sind Nachkriegskinder gewesen und ganz arm aufgewachsen. Ihr Ethos, dass man besser sein muss, dass man etwas schaffen muss, steckt ganz tief in mir drin», sagt Stefan Lemcke. Er hat als einziges von vier Kindern nicht studiert. Ankerkraut war seine Möglichkeit, etwas zu schaffen.

Sie seien nie die typischen Startup-Menschen gewesen, sagt Anne Lemcke, die vor Ankerkraut als PR-Managerin in der Musikindustrie gearbeitet hat. «Wir waren Mitte dreissig und haben als Ehepaar entschieden, dass wir diese Firma gründen wollen. Da hatten wir schon ein Kind, und ein zweites war im Anmarsch.»

Niemals hatten sie geplant, so gross zu werden. «Unser Ziel war einzig, dass wir unsere Familie ernähren können.»

Um ihre Produkte unter die Leute zu bringen, verbrachten die Gewürzunternehmer ihre Wochenenden Sommer für Sommer an Food-Festivals und Grillanlässen. Dies, nachdem sie die Woche über Fläschchen abgefüllt und den Bürokram erledigt hatten. 80-Stunden-Wochen waren die Regel.

Das zahlte sich aus. Das Geschäft wuchs schnell. Doch dem Ehepaar Lemcke blieb kaum Luft zum Atmen. «Auf einmal hatten wir die erste Million auf dem Ankerkraut-Konto. Aber das konnten wir gar nicht geniessen. Wir sind einfach weitergerannt», sagt Stefan Lemcke.

Mit der Teilnahme an der Show «Die Höhle der Löwen» beschleunigte sich das Geschäft noch einmal. Stefan und Anne Lemcke waren plötzlich Prominente. Die Firma expandierte ins Ausland. Corona brachte einen weiteren Schub, als Millionen Menschen das Kochen zu Hause für sich entdeckten.

Mit dem Unternehmen wuchs auch der Druck. Mit jedem neuen Angestellten war Scheitern noch ein bisschen schwieriger. «Wir haben 250 Mitarbeiter. Das klingt zwar toll. Aber wir sind damit auch verantwortlich für 250 Menschen, für deren Existenz und deren Familien», sagt Anne Lemcke.

Vor persönlichen Schicksalsschlägen kann ein geschäftlicher Erfolg ohnehin nicht schützen. Stefan Lemckes Eltern sind beide nacheinander an einem bösartigen Hirntumor erkrankt und schliesslich gestorben. Sie hatten in der Gründerphase oft auf die beiden Kinder aufgepasst und hatten somit ihren Anteil am Erfolg der Firma.

Für das Unternehmerehepaar war das der Moment, um das Engagement in der eigenen Firma erstmals zu reduzieren – zwei Jahre vor dem Nestlé-Deal. Sie verkauften Anteile an Ankerkraut und zogen sich aus dem operativen Geschäft zurück.

Und siehe da: Das Geschäft zog nochmals an.

Im Rückblick sei das der wahre Wachstumsmoment für Ankerkraut gewesen, sagen sie. «Wir haben gute Leute eingestellt. Es sind eher Manager als Unternehmer, aber genau das hat die Firma gebraucht.» Es sei wichtig gewesen, die Leute machen zu lassen, statt jede Salzlieferung noch persönlich kontrollieren zu wollen. «Es ist wie bei den eigenen Kindern. Irgendwann kommt der Moment, wo man sie ziehen lassen muss. Sonst werden sie nie erwachsen», sagt Anne Lemcke.

Den Erlösungsmoment gibt es nicht

In dieser Logik leuchtet auch der Verkauf ein. Wer seine Firma als Kind betrachtet, will, dass sie sich optimal entfalten kann. Der Lebensmittel-Multi Nestlé hat Zugang zu fast jedem Supermarktregal auf der Welt und wird dafür sorgen, dass Ankerkraut in den nächsten Jahren stark expandiert. Das erwarten die Lemckes von Nestlé. Sie selbst bleiben Ankerkraut als Markenbotschafter erhalten.

Wie fühlt es sich eigentlich an, das eigene Startup an eine Weltfirma zu verkaufen? Sind sie nun im Olymp angekommen, wo jeder Gründer hinwill?

Stefan Lemcke verwirft die Hände. Dieser quasi-religiöse Erlösungsmoment fühle sich in Wirklichkeit leer an. «Man rennt über die Linie, schaut zurück und spürt nichts», sagt Stefan Lemcke. Erst mit der Zeit habe er all das, was passiert sei, reflektieren können. Heute sei er sehr glücklich darüber, wie alles gelaufen sei. Und Stolz verspüre er auch.

Aber eigentlich lohne es sich nicht, sich abzukrüppeln für ein Ziel in ferner Zukunft. Wichtig sei, dass man bei dem zufrieden sei, was man heute mache. «Rennt nicht diesem Erlösungsmoment hinterher, so glorios ist der nicht!», sagt Stefan Lemcke. Und er muss es schliesslich wissen.

Moritz Kaufmann, «NZZ am Sonntag»

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