Das verlorene Paradies der Globalisierung: Nach dem Ende von «just in time» muss wieder Sicherheit her «Just in time» war der Kern weltweiter Wertschöpfungsketten: Produzieren ohne Lagerhaltung, aber mit pünktlichen Lieferungen rund um den Globus. Das funktioniert nicht mehr. Firmen brauchen wieder Lager – aber alte Rezepte reichen nicht.
«Just in time» war der Kern weltweiter Wertschöpfungsketten: Produzieren ohne Lagerhaltung, aber mit pünktlichen Lieferungen rund um den Globus. Das funktioniert nicht mehr. Firmen brauchen wieder Lager – aber alte Rezepte reichen nicht.
Wie schön die Welt früher war, merken auch Unternehmen oft erst, wenn sie hässlich wird. Die Welt der Produktion ist hässlich geworden. Schuld daran sind die anhaltenden Störungen der Lieferketten. Ihretwegen funktioniert das Just-in-time-Prinzip nicht mehr – jenes Produktionsmodell, das vor der Pandemie so perfektioniert worden war, dass es als selbstverständlich galt. «Just in time» bedeutet, dass eine Firma Material und Vorleistungen so bestellt, dass die Ware genau rechtzeitig eintrifft, um den Auftrag eines Kunden abzuarbeiten. Dazu kann die Firma bei der eigenen Lagerhaltung Kosten sparen.
Ohne Lager keine Reaktionszeit
Das System funktioniert, solange die Komponenten pünktlich geliefert werden. Das ist seit zwei Jahren längst nicht mehr die Regel: Die weltweite Logistik ist aus dem Takt gekommen, und vielerorts hat der Personal- und Teilemangel die Produktion gedämpft – vor allem in China, ausgelöst durch wiederholte Corona-Lockdowns. «Die durchoptimierte Produktion bricht einem das Genick, wenn der Lieferant nicht mehr liefert», sagt Jens Fankhänel, CEO des Lagerausrüsters Kardex aus Zürich. «Man hat keine Reaktionszeit mehr, die Fertigung steht still.»
Nun denken die Firmen um, hat der Lagerexperte beobachtet. Vor zwei Jahren habe man eine Situation wie heute für unmöglich gehalten, erklärt Fankhänel. Jetzt sei die Sicherheit der Produktion in den Geschäftsleitungen ganz oben auf der Agenda. Diskutiert wird, wie man von «just in time» zu «just in case» kommt – zu einer Lieferkette, die für viele Eventualitäten gerüstet ist und Unterbrüche aushält. «Niemand glaubt mehr, dass die Lieferketten in Zukunft so reibungslos funktionieren werden wie früher. Das wäre naiv», ist Fankhänel überzeugt.
Als Gegenmassnahme heisst es deswegen: zurück zum Lager. Die Lagerbestände wachsen weltweit in historisch hohem Tempo, konstatierten Anfang Juli Analytiker der UBS. Das absolute Niveau der Lager ist noch unter dem Wert von vor der Pandemie. Doch das Ausmass der Bestellungen liegt deutlich über dem, was zuvor normal war. Zum Teil wird einfach gekauft, was gerade verfügbar ist, heisst es in der Branche – denn wer weiss, wie lange es verfügbar ist.
Kardex und Interroll profitieren
Nicht nur in Lagerbestände wird investiert, auch in die Lagerhäuser selbst. Das spürt der Lagerausrüster Kardex, dessen Technologie für Hochregale und zum Ablegen von Kleinteilen gefragt ist. Der Auftragseingang war im ersten Halbjahr 2022 etwa einen Drittel grösser als im ersten Halbjahr 2019, vor der Pandemie. Weil die Aufträge nicht so schnell bedient werden können, blieb der Umsatz hinter den Möglichkeiten. Er erreichte 258 Millionen Euro, wie Kardex vor wenigen Tagen mitteilte – ein Plus von 24 Prozent zum Vorjahreszeitraum.
Allerdings können sich auch Lagerausrüster der allgemeinen Wirtschaftsstimmung nicht entziehen. Das zeigt Interroll aus Sant’Antonino (TI). Der Hersteller von Lagertechnik wie Rollen, Steuerungen und Modulen für Förderbänder verzeichnete im ersten Halbjahr nur geringfügig höhere Auftragszahlen als vor Corona, wie er am Dienstag bekanntgab.
Interroll verkauft seine Sortier- und Förderanlagen unter anderem an sogenannte Systemintegratoren, welche die Lager und Logistikzentren von Verteilern wie Amazon oder DHL ausrüsten. Mittlerweile schieben diese Endkunden manche Projekte auf und reduzieren Investitionen, unter anderem im E-Commerce. Hier spielen die neuen Sorgen um die Weltwirtschaft und die Inflation eine Rolle. Unternehmen warten ab und hoffen auf Klarheit.
Die Systemintegratoren hatten bei Interroll bereits im Jahr 2021 Rekordbestellungen von knapp 790 Millionen Franken aufgegeben. Sie orderten grosse Mengen Lagertechnik, um die Versorgungssicherheit für ihre Endkunden zu garantieren, sagt der CEO Ingo Steinkrüger. Diese Masse von Bestellungen, die Interroll nicht vollständig abarbeiten konnte, lastet die Firma noch heute gut aus. Der Umsatz kletterte von Januar bis Juli auf 311 Millionen Euro, 14 Prozent mehr als im ersten Semester 2021.
Dass man sich bei Investitionen übernehmen kann, zeigt ausgerechnet Amazon. Der E-Commerce-Riese hat während der Pandemie massiv in die Logistik-Infrastruktur in den USA investiert und die Lagerfläche verdoppelt. Doch als das Wachstum der Onlinebestellungen nicht mehr Schritt hielt, schrieb Amazon in den ersten beiden Quartalen 2022 Verlust – und gab zu, dass die Überkapazitäten im Logistiknetz für Zusatzkosten in Milliardenhöhe sorgten. Man habe zu viel Personal und zu viel Platz, erklärte der Finanzchef Brian Olsavsky.
Automatisierung ist wichtiger als Fläche
Die Zukunft der Lagerhaltung ist weniger eine Frage von Fläche als vielmehr eine von Effizienz – und damit von Automatisierung. Diese gilt auch in der Logistikbranche als der dominierende Trend: Laut Interroll sind in westlichen Ländern nur 30 Prozent der Logistik innerhalb von Betriebsstätten automatisiert. Maschinen senken die Abhängigkeit von Personal, was angesichts des wohl anhaltenden Mitarbeitermangels willkommen ist, und machen bei der Sortierung weniger Fehler als Menschen.
Automatisierung hilft auch bei der Analyse des Lagerbestands und bei der Vergabe von Nachbestellungen. «Es nützt nichts, pauschal jeden Artikel im Lager hochzufahren», sagt der Kardex-CEO Jens Fankhänel. Noch vor ein paar Jahren habe man die Komponenten für einen Auftrag bestellt, wenn der Auftrag in der Fabrik war. Nun könne Software aus der historischen Verkaufsentwicklung ableiten, was künftig gebraucht werde, und frühzeitig ausreichend bestellen – inklusive Sicherheitspuffer: «Lässt man einen Vorrat für drei Tage kommen, kauft man sich zwei Tage Reaktionszeit bei einem Ausfall in der Lieferkette.»
Ein intelligentes Lagermanagement ist Firmen lieber als das simple Anhäufen von Vorräten. Unternehmen mögen keine Lagerbestände: Sie sind wie Risikoversicherungen, und Versicherungen kosten Geld. Vorräte binden Kapital, das dem Unternehmen an anderer Stelle fehlt, zum Beispiel für Investitionen oder Dividenden. Hat man falsch oder zu viel eingekauft, besteht die Gefahr von Verlusten, weil Komponenten nicht gebraucht werden oder Ware mit Rabatt abverkauft werden muss.
Doch bei dieser Abwägung ist die Zeit für falsche Zurückhaltung vorbei – auch bei denen, die selbst Lager bauen. «Wir erhöhen unseren eigenen Lagerbestand, wo immer wir aktuell in der Lage sind, Teile zu beschaffen», sagt der Kardex-Chef Fankhänel. Die Einbussen bei einem potenziellen Produktionsausfall seien weitaus grösser als die Kosten. Der Entscheid sei zu spät gefallen, gibt Fankhänel zu. Aber hätte man das vor zwei Jahren gemacht, hätten Analytiker und Investoren hinterfragt, ob Kardex das Kapital richtig einsetze. «Heute würde man als Visionär betrachtet, wenn man das vorausschauend getan hätte», sagt er.
Einfach zurück wäre gefährlich
Bis Sommer 2021 arbeitete auch Interroll nach dem Just-in-time-Prinzip. «Dann haben wir schnell erkannt, dass hier etwas aus den Fugen gerät», erinnert sich der CEO Steinkrüger. Auch Interroll begann, Sicherheitspuffer aufzubauen, und stürzte sich in schwierige Gespräche mit Lieferanten. Allein im ersten Halbjahr 2022 wuchs die Lagerhaltung um 52 Millionen Franken. Das drückte den operativen Cashflow fast auf null. Doch wie bei Kardex gelten die Aussichten als gut.
Für den Interroll-Chef Steinkrüger ist klar: Firmen wollen eigentlich wieder zurück zum Just-in-time-Prinzip. Doch dafür müssten Unternehmen lokal für den jeweiligen Markt einkaufen können, um Risiken in der Logistik zu minimieren. Das setzt voraus, dass die Zulieferer nicht nur in Asien vorhanden sind. Ausserdem solle man sich zwei oder drei potenzielle Lieferanten für ein Produkt suchen, um Ausfälle kompensieren zu können, so Steinkrüger.
«Nur wenn die Abhängigkeiten reduziert werden, kann man zurück zur Situation vor Corona. Es wäre fatal und blauäugig, ohne diese Sicherheit zu einem geringen Lagerbestand zurückzukehren.»
Benjamin Triebe, «Neue Zürcher Zeitung»
Niemand mag volle Lager – im Normalfall
Ein Kennzeichen der Hyperglobalisierung seit Beginn der 1990er Jahre war der Aufstieg der globalen Wertschöpfungsketten. Teile der Produktion wurden in Niedriglohnländer verlagert, vor allem nach China, wo Komponenten nicht auf Vorrat, sondern nach Bedarf hergestellt wurden. Die Lieferung erfolgte zuverlässig rund um den Globus. Das Ergebnis war ein hochgradig kosteneffizienter, aber auch komplexer und fragmentierter Produktionsprozess, der auf dem mühelosen Austausch von Gütern und Dienstleistungen basierte, schreiben Analytiker der Grossbank Barclays.
Die Reduktion der Lagerhaltung hat zu einem Trend beigetragen, der «Great Moderation» genannt wurde: In den vergangenen mehr als 30 Jahren schwankten Wirtschaftszyklen oft weniger, als man es gewohnt war. Wenn früher die Wirtschaft boomte, wurden Unternehmen euphorisch, bestellten mehr Vorleistungen, als sie im Moment brauchten, produzierten auf Vorrat und stockten die Lager auf. Das trieb das Wirtschaftswachstum zusätzlich an.
Lager können Krisen verschärfen
Doch schwang das Pendel in die Gegenrichtung und die Nachfrage der Endkunden liess nach, mussten die Firmen zuerst ihre Lager abverkaufen. Währenddessen produzierten und bestellten sie umso weniger. Das verstärkte den gesamtwirtschaftlichen Rückgang der Nachfrage und damit den Abschwung.
Als die Bedeutung der Lagerhaltung im Wirtschaftszyklus abnahm, schwand auch dieser übertreibende Effekt. Es nicht ohne Ironie: Wenn Bevorratung wieder zum festen Kalkül vieler Unternehmen wird, weil sie mehr Sicherheit wollen, könnten die Zeiten volatiler und damit unsicherer werden.