Die Rad-WM nötigt das Gewerbe zu Zwangsferien – ohne Entschädigung Neun Tage gesperrte Strassen: Die Weltmeisterschaft verärgert Gewerbetreibende aus dem Seefeld. Als die Stadt Zürich informiert, kommt es beinahe zum Tumult.

Neun Tage gesperrte Strassen: Die Weltmeisterschaft verärgert Gewerbetreibende aus dem Seefeld. Als die Stadt Zürich informiert, kommt es beinahe zum Tumult.

(Bild: https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/Projekte/laufende-projekte/rad-wm.html)

Daniel Rupf ist auf der Hut. Rupf ist der Mann, der damit beauftragt worden ist, die Rad-WM in der Stadt Zürich zu organisieren. Nun steht er breitbeinig vor dem Lokal des Seesportfischervereins Zürich und Zollikon, die Arme in die Hüfte gestemmt.

Gleich soll er Gewerbetreibenden aus dem Seefeld erklären, warum sie im September während neun langen Tagen abgeschnürt sein werden. Die Bellerivestrasse wird zur Rennstrecke, die Dufourstrasse zum Materiallager. Alles für die Rad-WM.

Rupf – Jeans, weisses Hemd, Dreitagebart – wirkt weltgewandt und bodenständig zugleich. Sein Auftritt soll Vertrauen vermitteln. An diesem Abend gelingt ihm das zeitweise. Und doch wird er nicht verhindern können, dass es um ein Haar handgreiflich wird, als ein städtischer Mitarbeiter einen Gewerbetreibenden provoziert.

«Machst du auch zu?»

Die Rad-WM, die Mitte September beginnt, hat grosse Verkehrseinschränkungen zur Folge. In Witikon zerschneidet die Rennstrecke das Quartier in zwei Teile, es ist von der Stadt aus kaum mehr erreichbar. Besonders einschneidend sind die Einschränkungen aber im Seefeld mit seinen vielen Gewerbebetrieben.

Das Lokal des Seesportfischervereins besteht aus Täferwänden und Wellblechdächern. Ein geschnitzter Fisch hängt an der Aussenwand. Hinter dem Haus donnert der Verkehr. Der Apéro des Gewerbevereins Seefeld wird direkt am Seeufer serviert. Der Anlass ist ausgebucht, fünfzig Leute sind gekommen, so viele wie seit langem nicht mehr. Sie stehen in Gruppen beisammen.

Versammelt sind Unternehmerinnen und Unternehmer, die Löhne bezahlen müssen. Eine Betriebsschliessung liegt da eigentlich nicht drin.

Und doch hört man mehrmals den Satz: «Machst du auch zu?»

Da sind die beiden Autogaragenbesitzer mit zwanzig Mitarbeitenden, die sich fragen, wie Kunden und Ersatzteile zu ihnen gelangen sollen. Der Schreiner sorgt sich um den Abtransport – in seinem Fall ist die Ware besonders voluminös. Die Zahnärztin, sechs Mitarbeitende, hat schon vor einem Jahr beschlossen, dass sie die Praxis für eine Woche schliesst. Ihre Praxis sei schlicht nicht mehr zugänglich, sagt sie.

Der Gemüsehändler, der Autolackierer, der Schlüsseldienstspezialist: Alle beschäftigen dieselben Fragen. Gastronomen sind an diesem Abend keine vertreten. Aber auch sie sind sehr besorgt. Ihnen könnte die Ware ausgehen, weil es in der Innenstadt tagsüber keine Liefermöglichkeiten gibt.

«Together we ride!», steht auf einer Leinwand. Der Managing Director Rupf zählt mit sonorer Stimme die Highlights der Rad-WM auf. Zum ersten Mal würden in Zürich die besten Junioren, Behindertensportlerinnen und Elite-Athleten der Welt ins gleiche Ziel fahren. 53 Rennen, 66 Medaillensätze, 850 000 Radsportfans vor Ort.

Das klingt eindrücklich. Aber die vielen Rennen verlängern die Einschränkungen. Die Gewerbetreibenden interessiert vor allem eines: Wie kommen sie zu ihrer Ware, wenn keine Lastwagen mehr anfahren dürfen? Und wie kommen die Kunden zu ihnen?

Rupf sagt sinngemäss: Ja, es gibt Einschränkungen, aber es könnte schlimmer sein. Immerhin dürfe man die Rennstrecken in Ausnahmefällen queren. Das habe man dem Weltradsportverband UCI abgerungen. Dieser würde am liebsten absolut über die Strecke verfügen.

Der Aufwand für die Weltmeisterschaft ist enorm. Dass in Stadt und Kanton derzeit nicht weniger als vierzig Verkehrsinseln abgetragen werden, die später wieder aufgebaut werden müssen, ist nur eine Randnotiz.

Als es um den Verkehr geht, übergibt Rupf an eine Mitarbeiterin der Stadt. Sie gibt sich alle Mühe mit ihren Erklärungen. Doch sie präsentiert schwere Kost.

Die Rennstrecken überqueren können Automobilisten während der WM nur zwischen 19 Uhr und 5 Uhr morgens. Zwischen 5 und 7 Uhr könnten Zulieferer mit Gütern «typischerweise» queren, wie es in der Präsentation heisst. Nur: Was heisst «typischerweise»? Verbindlich klingt dies nicht.

Ab 7 Uhr morgens ist Rennbetrieb: Querungen nur für Notfälle. Und für gewisse Ausnahmen. Was gilt als Ausnahme? Erneut gibt es keine klare Antwort.

Die WM beginnt am Samstag, 21. September. Besonders einschneidend sind die Einschränkungen vom Mittwoch, dem 25. September, bis am Sonntag, dem 29. September. Dann ist im Seefeld nicht nur die Dufourstrasse gesperrt, sondern auch die Strassen nördlich des Quartiers. Die Rennstrecken legen sich wie ein Ring um Innenstadt und Seefeld.

Man erfährt: Die Zufahrt aus dem Stadtzentrum ins Seefeld wird komplett gesperrt sein. Wer von Altstetten ins Seefeld fahren will, muss den Umweg über Uster nehmen. «Ui», sagt die Frau am Nebentisch.

Ein Mann raunt seinem Nachbarn zu: «Das gibt ein Chaos.»

Auf dem Plan sind die Querungsstellen eingezeichnet. Man hat als Symbole ausgerechnet Fahrverbote ausgewählt. Die ungeschickte Wahl vergrössert die Verwirrung nur noch.

Als die Mitarbeiterin die Folie mit den ÖV-Umleitungen präsentiert, ist die Überforderung im Saal komplett. Je nach Phase sind andere Strecken gesperrt und verkehren andere Ersatzbusse. Rote Punkte stehen für aufgehobene Haltestellen. Die Karte ist voll davon.

Der Gemüseverkäufer sagt leise: «Die Leute geben auf.»

Der Autolackierer will wissen, wie er die Zusatzkilometer seinen Kunden erklären soll. «Das zahlt nämlich keiner.» Die Gewerbetreibenden erhalten zur Antwort, dass es keinerlei Ausfallentschädigung gebe. Dafür gebe es keine Rechtsgrundlage.

«Hast du überhaupt Aufträge?»

Wieder einmal hört man den Satz: «Ich muss zumachen.» Es ist der Schlüsseldienstspezialist. Rolf Hirt heisst er.

Jetzt geschieht etwas Unerwartetes. Ein Mitarbeiter der Stadt, der nicht offiziell vorgestellt wurde, steht auf. Er fragt Hirt direkt: «Hast du überhaupt Aufträge?» Ein Staatsangestellter, der Fähigkeit wie Lauterkeit eines Gewerbetreibenden anzweifelt: Es ist die maximale Provokation.

Es wird laut im Zelt. «Wir lehnen Aufträge ab wegen dieser WM!», ruft einer.

Am Tag darauf erzählt Rolf Hirt am Telefon, er habe sich schwer beherrschen müssen. Sein Sohn sei zum Glück neben ihm gesessen und habe ihn beschwichtigt. «So muss mir keiner von der Stadt kommen», sagt er.

Hirt beschäftigt sieben Servicemonteure, die «kreuz und quer» durch die Stadt fahren, wie er sagt. Die Aufträge kommen fast immer kurzfristig herein, und nicht selten sind es Notfälle: das Kind, das in der Wohnung eingeschlossen ist, oder der Rentner mit einem medizinischen Problem. Aber durch die Rad-WM sei er eingeschnürt.

Dank finanziellen Reserven könne er es sich leisten, eine Woche zu schliessen und seinen Angestellten freizugeben. Ihm bleibe aber auch nichts anderes übrig. Von der Stadt habe er keine Informationen erhalten, wie er seine Kunden bedienen könne. Auch nicht auf seine konkrete Nachfrage Mitte August hin.

Gegen die Rad-WM habe er nichts, sagt Hirt. Aber gegen die Organisation der Stadt sehr wohl. «Man hätte doch die betroffenen Firmen anschreiben und saubere Durchfahrtsbescheinigungen verteilen müssen.»

Was viele Gewerbetreibende erstaunt: Die Kantonspolizei will, dass der Durchgangsverkehr das Seefeld grossräumig umfährt. Doch die Bewilligung für eine Zufahrt ins Seefeld kann man sich auf der Website à discrétion herunterladen, ohne sich identifizieren zu müssen.

Zurück im Zelt. Ein Mann plädiert dafür, nun mit der Frustbewältigung aufzuhören. Man müsse das Beste aus der Situation machen. «Diese WM findet so oder so statt.»

Daniel Rupf spricht zum Abschluss nochmals. Er sagt: «Wir müssen Lösungen finden, und zwar individuelle. Das ist unser Job.» Viel Zeit bleibt nicht mehr. In dreieinhalb Wochen rollen die ersten Rennräder.

Das Abendessen ist serviert. Es gibt Salat und Fischknusperli, zum Dessert Vanilleglace mit warmen Beeren.

Die Vertreter der Stadt werden mit höflichem Applaus verabschiedet. Sie sind nicht zu beneiden, denn sie stecken in einer Zwickmühle. Ausnahmen wollen sie zwar ermöglichen. Doch dass es solche Ausnahmen gibt, wollen sie nicht an die grosse Glocke hängen, weil sonst jeder darauf pocht.

Wer darf im Zweifelsfall die Rennstrecke queren? Der Sanitär, der wegen eines lecken Rohrs ausrücken muss? Die Köchin, die auf Nachschub angewiesen ist? Oder vielleicht auch einfach derjenige, der auf einen gutgelaunten Streckenposten trifft? Am Ende des Abends bleibt vieles offen.

Michael von Ledebur, «Neue Zürcher Zeitung»

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