Im Moment stockt die Nachfrage nach Velos – doch das Geschäft mit E-Bikes verspricht weiter zu boomen Während der Pandemie schossen die Verkäufe von Fahrrädern nach oben. Nun kämpfen die Hersteller mit hohen Lagerbeständen. Ein Online-Händler des Immobilieninvestors René Benko ist sogar zum Sanierungsfall geworden. Je mehr allerdings Autos aus Städten verbannt werden, desto grössere Chancen bieten sich bei Zweirädern.
Während der Pandemie schossen die Verkäufe von Fahrrädern nach oben. Nun kämpfen die Hersteller mit hohen Lagerbeständen. Ein Online-Händler des Immobilieninvestors René Benko ist sogar zum Sanierungsfall geworden. Je mehr allerdings Autos aus Städten verbannt werden, desto grössere Chancen bieten sich bei Zweirädern.
Wer von einem neuen Velo träumt, hat gute Karten. Die Lager der Hersteller und Händler sind gut gefüllt, in manchen Geschäften überquellen sie gar. Rabatte sind an der Tagesordnung.
Wartezeiten waren gestern
Noch vorletztes Jahr und bis im Frühling 2022, als die letzten Corona-Beschränkungen aufgehoben wurden, war die Lage völlig anders. Statt Überkapazitäten dominierten Engpässe.
Manche Modelle waren ausverkauft, da sich während der Pandemie viele mangels anderer Freizeitmöglichkeiten aufs Rad schwangen. Bis das gewünschte Fahrrad endlich geliefert wurde, dauerte es nicht selten Monate.
In der Branche herrschte Goldgräberstimmung. Angelockt von Wachstumsraten im deutlich zweistelligen Prozentbereich, drängten neue Anbieter in den Markt. Und die etablierten Hersteller reagierten auf die enorm gestiegene Nachfrage. «Von Portugal über Bulgarien und Rumänien bis nach Polen und Litauen wurden in Europa neue Velofabriken gebaut», sagt Frank Böckmann, Verwaltungsratspräsident beim Bieler Hersteller von Fahrradkomponenten DT Swiss.
DT Swiss und Flyer streichen Stellen
Die Traditionsfirma, die weltweit vier Produktionsstätten betreibt und rund 1000 Mitarbeiter beschäftigt, baute selbst ihr Werk in Polen aus. In den vergangenen Monaten wendete sich das Blatt aber auch für DT Swiss. Da es auf einmal Überkapazitäten gab, war die Firma gezwungen, weltweit Personal abzubauen. «Alle haben das gemacht», sagt Böckmann.
Vergangene Woche bestätigte sich, dass ein weiterer Schweizer Hersteller, die Firma Flyer, Stellen streicht. Davon betroffen sind rund 80 Mitarbeiter der 300-köpfigen Belegschaft am Hauptsitz in Huttwil. Das Unternehmen begründete die Massnahme mit der «schwierigen Marktsituation in der gesamten Fahrradbranche».
Davon wurde auch der Online-Sporthändler Signa Sports United (SSU) erfasst, der zu 48 Prozent der Privatstiftung des Immobilieninvestors René Benko gehört. Das Unternehmen liess seine Aktien im Dezember 2021 an der New Yorker Börse kotieren. Mit dem Erlös aus dem Börsengang hatte SSU unter anderem den britischen Velo-Online-Händler Wiggle gekauft. Doch jetzt will sich die Firma bereits wieder von der Börse zurückziehen, um Kosten zu sparen.
SSU ist ein Sanierungsfall und wird restrukturiert. Benkos Signa Holding hat jüngst 150 Millionen Euro ins Unternehmen eingeschossen. Die Retail-Händler seien nach wie vor damit beschäftigt, ihre Lager zu leeren, gab SSU bekannt. Dabei hat sich vor allem die Radsparte schlechter entwickelt als erwartet. Insgesamt liegt die Nachfrage unter dem Niveau, das SSU vor der Pandemie erreicht hat.
Für das laufende Jahr rechnet die SSU-Führung mit einem Geldabfluss von 250 Millionen Euro. Als die Firma ihr Börsendebüt gab, war sie 3,2 Milliarden Dollar wert, nun sind es noch 57 Millionen Dollar.
Wann normalisieren sich die Lagerbestände?
Weite Teile der Branche müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, die Entwicklung der Nachfrage nach dem Corona-Boom überschätzt zu haben. Trotz der gedrückten Stimmung ist Böckmann von DT Swiss aber nicht der Ansicht, dass sich die Krise länger hinziehen werde. Zwar seien die hohen Lagerbestände eine Herausforderung. Doch Böckmann ist überzeugt, dass sich die Lage innerhalb der nächsten sechs Monate normalisieren werde.
Mit dieser Haltung scheint der Präsident von DT Swiss indes optimistischer gestimmt zu sein als andere Branchenvertreter. Die japanische Traditionsfirma Shimano, die zu den grossen Produzenten von Komponenten für Fahrräder zählt, sah sich jüngst veranlasst, den Zeitpunkt der erwarteten Beendigung der exzessiven branchenweiten Lagerbestände vom zweiten auf das dritte Quartal 2024 zu verschieben. Das Management des taiwanischen Fahrradherstellers Giant Manufacturing glaube nun auch, so führen Analytiker der Investmentbank Morgan Stanley aus, dass es länger dauern werde. Es rechne erst für das zweite Quartal statt wie bisher bereits für den Beginn des kommenden Jahres mit einer Normalisierung.
Branchenschwergewichte aus Fernost
Taiwan ist in der Produktion von Fahrrädern eine Supermacht. Giant, der Firmenname ist nicht übertrieben, erwirtschaftete 2022 einen Umsatz von umgerechnet 3,1 Milliarden Dollar. Merida Industry, ein weiteres Branchenschwergewicht aus Taiwan, brachte es auf 1,2 Milliarden Dollar.
In den vergangenen Jahren haben es taiwanische Anbieter geschafft, sich auch bei E-Bikes an die Spitze zu manövrieren. Die Erfolge spiegeln sich in der Statistik der Ausfuhren nach Europa, dem für die Fahrradbranche nach wie umsatzstärksten Absatzmarkt. So wurden im vergangenen Jahr erstmals mehr E-Bikes als konventionelle Velos von Taiwan nach Europa exportiert.
Fahrräder mit Elektroantrieb gehören immer mehr zum Strassenbild – auch in der Schweiz. Im vergangenen Jahr wurde bei den E-Bikes hierzulande ein weiterer Absatzrekord erreicht.
Insgesamt verkauften Händler laut der Branchenvereinigung Velosuisse fast 220 000 Stück, 17 Prozent mehr als im Vorjahr. Die E-Bikes erreichten damit einen Marktanteil von 45 Prozent. Schon bald dürfte jedes zweite verkaufte Fahrrad in der Schweiz über einen Elektromotor verfügen, so erwartet man in der Branche.
Zugleich nahm der Absatz bei den konventionellen Velos ohne Motor im vergangenen Jahr erneut ab. Dies hatte zur Folge, dass sich auch der Gesamtmarkt, in Stückzahlen gerechnet, wie bereits im Vorjahr leicht zurückbildete.
E-Bikes werden inzwischen in ganz Europa für Fahrten vorab in der Freizeit rege benutzt. Allerdings gibt es regionale Unterschiede. So sei die Verbreitung in der Schweiz und in Deutschland ähnlich wie in den Benelux-Staaten weit vorangeschritten, sagt Böckmann. «Grossbritannien, Italien und Spanien haben hingegen noch Nachholbedarf.»
Ein Autohändler drängt ins Velogeschäft
Die hohen Wachstumsraten im Geschäft mit E-Bikes haben in den letzten Jahren zahlreiche Investoren angelockt. Besonders aktiv war die niederländische Familie Pon, die ihren Reichtum ähnlich wie der Eigentümer der Schweizer Amag-Gruppe, Martin Haefner, dem Import von Autos des Herstellers Volkswagen verdankt. Ihre Fahrradsparte, die Marken wie Cannondale, Kalkhoff und Urban Arrow umfasst, brachte es im vergangenen Jahr laut dem Branchenportal Bike Europe auf einen Umsatz von 2,4 Milliarden Euro. Ebenfalls als Käufer von Velomarken betätigten sich der österreichische Motorradhersteller Pierer Mobility (Felt, Husqvarna, Gasgas) und der US-Finanzinvestor KKR (Batavus, Raleigh, Sparta).
All diese Anbieter setzen darauf, dass sich die Nachfrage nach E-Bikes weiter erhöhen wird. Die Firma Pierer, die ihren Produktionsstandort für Fahrräder mit Elektroantrieb in Bulgarien zurzeit erweitert, hat sich das Ziel gesetzt, in diesem Bereich bis 2027 einen Umsatz von 500 Millionen Euro zu erwirtschaften. Im laufenden Jahr dürfte sie erst auf knapp 200 Millionen Euro kommen, doch Hubert Trunkenpolz, Marketingverantwortlicher und Mitglied der Konzernleitung, rechnet sich Chancen auf Kosten von Konkurrenten aus. Es würden viele fehlerhafte Systeme angeboten, sagt er. «Das sind E-Bikes, die ich nie und nimmer benutzen würde.»
Auch DT Swiss betrachtet den Markt für E-Bikes noch nicht als ausgereizt. Das Unternehmen verspricht sich wie andere Anbieter vor allem im Geschäft mit Berufspendlern Wachstumspotenzial. Pendlern werde es in vielen europäischen Städten zunehmend schwer gemacht, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren, sagt Böckmann. Hinzu kommen Arbeitgeber, die lieber Zuschüsse an ein Fahrrad als an einen Dienstwagen leisten, um so bei Investoren und Behörden in Sachen Umweltschutz zu punkten. Der Präsident weist auch auf neuartige Finanzierungsmodelle für E-Bikes hin. So könne man E-Bikes heute wie Autos leasen.
E-Bike gegen Auto
Weiteren Rückenwind versprechen der Branche steuerliche Anreize sowie Subventionen. So ist es Mitgliedstaaten der EU seit zwei Jahren erlaubt, die Mehrwertsteuer auf Fahrrädern von 15 auf 5 Prozent zu senken. Bis 2030 könnte sie ganz verschwinden. In Frankreich erhalten Automobilisten zudem 4000 Euro, falls sie ihren Wagen gegen ein E-Bike eintauschen. Das Beispiel könnte, so hofft die Branche, auch anderswo Schule machen.
Dominik Feldges, Daniel Imwinkelried, Wien, «Neue Zürcher Zeitung»