CEO, 90 Jahre und keine Absicht, zurückzutreten – wie alt ist zu alt, um ein Unternehmen zu führen? Joe Biden wurde das Alter zum Verhängnis. In der Wirtschaft gibt es Chefs, die weit älter sind. Kein Problem, sagen Forscher.
Joe Biden wurde das Alter zum Verhängnis. In der Wirtschaft gibt es Chefs, die weit älter sind. Kein Problem, sagen Forscher.
Bernard Arnault hat eine Sechstagewoche. Der CEO des französischen Luxusgüterkonzerns LVMH besucht jeden Samstag mehrere Geschäfte, eigene und die seiner Konkurrenten. Arnault schaut, nein, er inspiziert, wie Louis Vuitton seine Handtaschen anordnet, ob bei Dior die Stühle zum Teppich passen und welche Schuhe die Verkäufer von Tiffany tragen.
Danach setzt sich Arnault hin und zählt in langen E-Mails an seine Angestellten alle beobachteten Unzulänglichkeiten auf. Sein Sohn Antoine sagte kürzlich einem Journalisten der Nachrichtenagentur Bloomberg: «Ich glaube nicht, dass mein Vater je zu arbeiten aufhören wird.» Bernard Arnauld ist 75 Jahre alt.
Joe Biden hingegen hört auf. Am vergangenen Wochenende hat er seine Kandidatur als Präsident für die USA zurückgezogen. Zuvor hatte er den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski mit Wladimir Putin verwechselt und war mehrere Male mitten in Gesprächen erstarrt. Das führte in der Öffentlichkeit zu der Erkenntnis, dass Biden mit seinen 81 Jahren zu alt ist für eine zweite Amtszeit.
Doch: Ab wann ist alt zu alt? Wenn die Frage für Politiker diskutiert wird, kann sie auch für eine andere Führungsposition gestellt werden: den CEO. Nicht nur Bernard Arnault arbeitet im hohen Alter weiter. Giorgio Armani ist 90 Jahre alt und der Chef von seinem Modehaus. Robert Greenberg führt die Turnschuhfirma Skechers im Alter von 84 Jahren. Und dann ist da natürlich der legendäre Warren Buffett, 93 Jahre alt und Geschäftsführer von Berkshire Hathaway.
Arnault, Armani, Greenberg und Buffett vereinen drei Wirklichkeiten, die zusammengenommen zur Besonderheit werden: Sie führen erfolgreich ein Unternehmen, sie sind längst im Pensionsalter, und sie zeigen keine Absicht, demnächst einmal zurückzutreten.
Ist das ein Problem?
Eine Eigenschaft von vielen
Falsche Frage, findet Mike Martin, Professor für Gerontopsychologie an der Universität Zürich. Für Martin gibt es keinen Grund, warum Personen fast jeden Alters nicht über die gleichen Fähigkeiten wie andere verfügen oder über höhere. Martin drückt es so aus: «Es gibt 85-Jährige, die 100 Meter schneller laufen als Sie und ich.»
Das chronologische Alter, also der zeitliche Abstand von der Geburt, sei in der Regel ein schlechter Prädikator, um die Leistungsfähigkeit einer Person zu beurteilen, sagt Martin. Einzelne Eigenschaften wie Schnelligkeit, Koordination oder Greifkraft würden sich bei Menschen ab 65 Jahren stark unterscheiden. Sie liessen keine generellen Aussagen über eine Gruppe zu.
Martin sagt: «Immer dann, wenn wir versuchen, bei Menschen aufgrund eines einzigen Merkmals, etwa ihres Alters, auf die unterschiedlichsten Fähigkeiten zu schliessen, liegen wir in der Mehrzahl der Fälle daneben.»
Beatrix Horni ist Psychotherapeutin und Vizepräsidentin des Verbands Gerontologie CH. Sie sagt: «Ältere Menschen sind die heterogenste Gruppe von Menschen, die es gibt.» Ob jemand im Alter von neunzig Jahren noch fähig sei, ein Unternehmen zu führen, oder nicht, lasse sich nicht sagen. Dafür müsse man immer den Gesundheitszustand des Einzelnen betrachten.
Mehr Erfahrung, weniger Tempo
Es ist allerdings auch kein Geheimnis, dass Menschen im Alter anfälliger werden für Gebrechen und Krankheiten. Mehr als ein Drittel der über 90-Jährigen ist dement. Das heisst zwar, dass zwei Drittel ein gesundes Gehirn haben. Doch auch gesunde Gehirne verändern sich im Alter. Die Forschung unterscheidet zwischen einer flüssigen und einer kristallinen kognitiven Leistung.
Mit flüssiger kognitiver Leistung sind Funktionen gemeint, die sich auf die Geschwindigkeit des Denkens beziehen: Wie schnell verarbeitet jemand eine Information, wie lange kann er oder sie sich auf etwas konzentrieren, wie viele Dinge parallel erledigen? Bei der kristallinen kognitiven Leistung hingegen geht es um Dinge, die sich im Laufe eines Lebens erlernen lassen: Erfahrung, Allgemeinbildung, Wortschatz.
Im Alter verschieben sich diese Leistungen. Der flüssige Anteil nimmt ab, die kristalline Intelligenz bleibt erhalten oder nimmt zu. Die Psychotherapeutin Beatrix Horni sagt: «Ein älterer CEO hat die Fähigkeiten, die er für seinen Job braucht, ein Leben lang trainieren können.» Führungspersonen seien es gewohnt, vor Menschen aufzutreten, strategisch zu denken, Entscheide zu fällen.
Heinrich Villiger ist der Älteste
Früher war für die meisten Menschen der Weg in einem Unternehmen vorhersehbar. Auf den Eintritt folgten Beförderungen, mehr Lohn, Anerkennung. Dann, um Mitte sechzig, gab es an einem Nachmittag unter der Woche ein Apéro und ein Abschiedsgeschenk von den Kolleginnen und Kollegen. Das war’s.
Zurücktreten bedeutet, das Zentrum der Aufmerksamkeit zu verlassen. Der Ruhestand gibt einem alle Zeit der Welt, aber er neigt dazu, Menschen an den Rand zu drängen. Der Gedanke kann grausam sein: Diese Woche noch auf Geschäftsreise, nächste Woche pendeln zwischen Garten und Wohnzimmer.
Als die «Financial Times» Giorgio Armani von einigen Jahren fragte, wann er aufhören werde, sagte er: «Alle sagen mir, ich solle mich zur Ruhe setzen und die Früchte dessen geniessen, was ich aufgebaut habe. Aber ich sage nein . . . absolut nicht.»
Natürlich sind Menschen wie Giorgio Armani oder Warren Buffett eine Ausnahme. Die Einzigen, die weit über ihre Pension hinaus arbeiten, sind sie nicht. In der Schweiz etwa gibt es Nick Hayek, CEO der Swatch Group: 69 Jahre alt. Oder Albert Baehny, der im vergangenen Jahr erneut die Geschäfte des Pharmazulieferers Lonza übernahm und das Unternehmen nun noch so lange interimistisch führen wird, bis sein Nachfolger eingearbeitet ist: 71 Jahre alt.
Doch niemand übertrifft Heinrich Villiger, Patron der gleichnamigen Zigarrenfabrik: Er wurde im Mai 94 Jahre alt. Bis heute ist Villiger der Chef des Tabakunternehmens, seine E-Mails lässt er sich von einer Assistentin ausdrucken und per Kurier nach Hause bringen.
CEO werden älter
Ein Report des Headhunters Guido Schilling zeigt, wie das obere Kader von Schweizer Unternehmen immer älter wird. Die Geschäftsleitungsmitglieder der hundert grössten Arbeitgeber des Landes sind im Durchschnitt 53 Jahre alt. Im Jahr 2011 lag diese Zahl noch bei 50 Jahren. Am stärksten ist das Durchschnittsalter der CEO gestiegen: Es liegt derzeit bei 55 Jahren, im Jahr 2012 waren es noch 52 Jahre. Am ältesten sind die Verwaltungsratspräsidenten mit durchschnittlich 63 Jahren.
Der Gerontopsychologe Mike Martin sagt: «Die Frage ist nicht, ab wann eine Person zu alt ist für eine Führungsaufgabe, sondern was sie leisten können muss, um diese Aufgabe zu erfüllen.» Wer ein hohes Alter automatisch mit einer geringeren Leistung gleichsetze, mache einen Fehler. Und: «Er schränkt den Pool von talentierten Kandidatinnen und Kandidaten unnötig ein», sagt Martin.
Auch die Psychotherapeutin Beatrix Horni rät, die positiven Seiten von älteren Führungskräften zu sehen. Das seien oft Menschen mit einer hohen Motivation und überdurchschnittlichem Engagement. «Viele von ihnen machen weiter, weil sie ihren Selbstwert aus ihrer Arbeit ziehen.»
Im Vorstand bis 99
Chefs, die nicht spüren, wann es Zeit ist, zu gehen, wird es immer geben. Für sie kennt die Wirtschaft, was es auch in der Politik gibt: eine institutionelle Beschränkung der Macht, das Prinzip der Checks and Balances. Ein CEO bestimmt nicht selbst, wann er nicht mehr willkommen ist, es sei denn, er ist der Aktionär, der die Kontrolle hat. Das ist die Aufgabe des Verwaltungsrats, der wiederum von der Generalversammlung gewählt wird.
Bernard Arnault, CEO und Generaldirektor von LVMH, musste vor einigen Jahren beinahe gehen. Eine in den Statuten verankerte Altersobergrenze hätte ihn zum Ruhestand gezwungen. Doch Arnault wollte weitermachen und bat die Aktionäre deshalb um eine Regelanpassung. Sie folgten seinem Wunsch und stimmten an der Generalversammlung dafür, das Höchstalter für Arnaulds Position von 75 auf 80 Jahre anzuheben.
In einem Interview erzählte Arnault vor kurzem, dass er nach der Abstimmung einen Brief von Warren Buffett erhalten habe. Dieser habe ihm gratuliert, dass er dem Unternehmen noch länger erhalten bleiben werde.
Doch Buffett schrieb auch, dass Arnault einen Fehler gemacht habe: Mit achtzig Jahren habe er die Altersobergrenze für den CEO viel zu tief angesetzt.