Das Lohntabu ist am Verschwinden Eine neue EU-Norm verlangt Transparenz bei den Gehältern – das bringt die Schweizer Firmen unter Druck.
Eine neue EU-Norm verlangt Transparenz bei den Gehältern – das bringt die Schweizer Firmen unter Druck.
Kaum eine andere Firma in der Schweiz legt die Löhne so konsequent offen wie die Familie Wiesner Gastronomie. Schon vor zwei Jahren traten die Inhaber, die Brüder Daniel und Manuel Wiesner, vor die Belegschaft und verrieten ihr eigenes Salär: 240 000 Fr. Ebenso dürfen alle 1000 Mitarbeitenden wissen, was die anderen im Unternehmen verdienen.
«Der Schritt war für uns eine grosse Befreiung», erzählt Manuel Wiesner. «Wie überall waren die Löhne auch bei uns ein emotionales Thema. Doch seit wir transparent sind, hat sich das auf einen Schlag erledigt: Das Versteckspiel bei den Bewerbungen fällt weg. Und niemand muss Angst haben, gegenüber den anderen zu kurz zu kommen.»
Was die Familienfirma Wiesner vormacht, dürfte nun immer mehr Nachahmer finden. So hat die EU kürzlich neue Regeln zur Lohntransparenz erlassen. Bis im Jahr 2027 müssen europäische Unternehmen bei offenen Stellen das Einstiegsgehalt oder die Lohnspanne deklarieren. Zudem müssen sie für alle Funktionen die durchschnittlichen Saläre ausweisen sowie die angewandten Kriterien dahinter. Die Pflicht gilt für alle Firmen mit mehr als 100 Angestellten.
«Die Vorschrift verbessert die Fairness bei der Entlöhnung», sagt Nadine Nobile. Sie ist Geschäftsführerin der deutschen Beratungsfirma CO:X sowie Buchautorin. «Viele Firmen zeigen bis heute eine widersprüchliche Haltung: Auf der einen Seite wollen sie mündige Mitarbeitende, die mitdenken und mitgestalten. Gleichzeitig aber wollen sie ihnen die Gehaltsangaben, welche für sie von grosser Relevanz sind, vorenthalten.»
Grund für Frustrationen
Die Fairness sei ein entscheidender Faktor für die Motivation, erklärt die Vergütungsexpertin. «Das ist vergleichbar mit dem Schiedsrichter im Fussball, den man meistens kaum wahrnimmt. Sobald er aber eine ungerechte Entscheidung trifft, fallen die Reaktionen sehr heftig aus.» Deshalb bringe die Lohntransparenz auch nur dann einen Vorteil, wenn die Leute das System dahinter nachvollziehen können.
Die EU-Richtlinie stärke die Position der Angestellten, sagt Nobile. Denn die Informationsasymmetrie bedeute besonders für treue, langjährige Mitarbeitende einen Nachteil. «Hat eine Firma zum Beispiel eine vakante Stelle, so kann sie einen neuen Mitarbeitenden mit einem höheren Gehalt ködern und dies vor dem bestehenden Team verheimlichen.» Solche Formen der Ungleichbehandlung würden künftig schwieriger. Ebenso helfe die Massnahme, die Lohngerechtigkeit zwischen den Geschlechtern zu verbessern.
Weil aber die Entlöhnung so eng mit der Firmenkultur verknüpft sei, würden sich die Gehälter nicht von einem auf den andern Tag offenlegen lassen, warnt der Unternehmer Manuel Wiesner. «Wir haben für diesen Prozess fünf bis sechs Jahre benötigt. Das Konfliktpotenzial ist enorm – denn reflexartig stuft sich jeder zunächst als unterbezahlt ein. Erst wenn alle wirklich verstehen, aus welchen Gründen sie wo im Lohnsystem stehen, kommen die Vorteile der Offenheit zum Tragen.»
Besonders knifflig sei es zum Beispiel gewesen, die Funktionen in den 31 Restaurants mit jenen in den zentralen Diensten wie dem Marketing in Einklang zu bringen. «Um vollständig transparent zu sein, haben wir ein Online-Formular aufgeschaltet, mit dem jeder den Lohn eines beliebigen Kollegen abfragen kann. Effektiv genutzt aber wurde dieses nur gerade 15-mal. Das zeigt uns, wie gross das Vertrauen unserer Mitarbeitenden ist, dass sie fair entlöhnt werden.»
«Unnötige Geheimniskrämerei»
Die neuen EU-Vorschriften setzen auch Schweizer Firmen unter Zugzwang, sind Experten überzeugt. Der Personalberater Jörg Buckmann sagt schon lange voraus, dass das Tabu bei den Löhnen fallen werde. «Besonders die jüngere Generation empfindet diese Geheimniskrämerei als unnötig und peinlich. Dabei könnten die Firmen gerade jetzt mit dem Fachkräftemangel auf einfache Art punkten, wenn sie ihre Gehälter offen kommunizieren.»
Etliche Arbeitgeber gehen mit gutem Beispiel voran: Die Bahngesellschaft BLS, die Zürcher Verkehrsbetriebe VBZ oder auch der Kanton Bern publizieren in den Stelleninseraten bereits ein Lohnband. Die Post und die Swisscom testen dasselbe in Pilotprojekten. Laut Insidern plant auch die Postfinance einen solchen Schritt.
Doch die breite Masse der Arbeitgeber verhalte sich ängstlich und zögerlich, kritisiert Buckmann. Als Beispiel nennt er die Bundesverwaltung: «Intern hat diese ihr Lohnsystem vorbildlich offengelegt. Umso paradoxer ist es, dass die Verwaltung für die eigenen ausgeschriebenen Stellen keine Lohnangaben macht, während die Politik der Wirtschaft ständig predigt, sie solle transparenter sein.»
Letztlich, so Buckmann, brauche es für mehr Offenheit einen kulturellen Wandel – was sich auch mit staatlichen Normen nicht erzwingen lasse. Das zeige sich in Österreich, wo in den Stelleninseraten schon heute ein Mindestsalär publiziert werden muss. «Viele Firmen geben dort ein so tiefes Minimum an, dass für die Arbeitnehmer kaum ein Nutzen daraus entsteht.» Die Umstellung sei kein Spaziergang gewesen, bestätigt Manuel Wiesner. «Dass unser Teamgeist und die Motivation der Mitarbeitenden aber so stark davon profitieren, hätte ich kaum für möglich gehalten.»