Die Revolution der Lernkultur als Schlüssel zum Unternehmenserfolg Wie eine Organisationskultur möglich wird, in der kontinuierliche Weiterentwicklung zum festen Bestandteil des Arbeitsalltags wird. Das sagt die Expertin.

Wie eine Organisationskultur möglich wird, in der kontinuierliche Weiterentwicklung zum festen Bestandteil des Arbeitsalltags wird. Das sagt die Expertin.

Das Konzept des lebenslangen Lernens soll Menschen dabei unterstützen, flexibel auf Veränderungen zu reagieren. (Adobe Stock)

Lebenslanges Lernen ist ein wesentlicher Bestandteil der persönlichen und beruflichen Entwicklung, aber wie ­gelingt es umfassend und nachhaltig? Die meisten von uns gehen hoffentlich davon aus, dass der Mensch sich weiterentwickeln kann. Nach der humanistischen Psychologie kann nicht nur, sondern will der Mensch sich laufend weiter­entwickeln. Im stetigen Wachstum und in der vollen Entfaltung des eigenen Potenzials erfüllt sich demnach der Lebenssinn.

Der US-amerikanische Psychologe Carl Rogers sprach von der Selbstaktualisierung und meinte damit, dass in allen Menschen eine innere Motivation angelegt ist, die eigenen Talente, Fähigkeiten und Werte zu verwirklichen. Menschen, die dieser inneren Motivation folgen und sich weiterentwickeln, leben authentisch und im Einklang mit ihren Überzeugungen. Ihr Interesse ist nicht nur auf äussere Erfolge ausgerichtet, sondern auch auf Sinnerleben. Darüber hinaus sind sie sich ihrer Stärken und Schwächen bewusst, können ihre Emotionen gut regulieren und sind offen für Neues.

Die Welt wäre vermutlich eine friedlichere und bessere, wenn alle Menschen die Möglichkeit hätten, sich in diese Richtung zu entwickeln. Damit stellt sich die Frage, wie wir Bildungsinstitutionen und auch Organisationen gestalten müssten, in denen diese innere Motivation dauerhaft genährt wird. Nicht nur aus der humanistischen Psychologie, sondern auch aus neurobiologischer und evolutionstheoretischer Forschung wissen wir, dass Menschen sich entfalten, wenn sie Resonanz und Empathie erfahren und wenn sie sich in einem Umfeld bewegen, das als unterstützend und wertschätzend wahrgenommen wird. Darüber hinaus benötigt der Mensch die Möglichkeit, sich selbst wohlwollend und kritisch zu reflektieren, um eigene Werte und zugrunde liegende Überzeugungen zu erkennen und sich entsprechend weiterzuentwickeln.

Die Bedeutung des lebenslangen Lernens

Der Fokus auf sich selbst ist aber nicht als Egozentrik misszuverstehen, sondern gleichermassen als ein Beitrag zur gesellschaftlichen – auf Unternehmen bezogen – und zur organisationalen Entwicklung. Menschen, die mit sich im Einklang leben und ihr Potenzial entfaltet haben, sind kreativer und innovativer, weisen eine höhere Resilienz auf und reagieren auf Veränderungen souveräner. Sie übernehmen Eigenverantwortung und sind engagiert in den Bereichen, die mit ihren Werten im Einklang sind.

Interessanterweise entstand bereits in den 1960er Jahren als Reaktion auf die sich schnell verändernden gesellschaftlichen und technologischen Anforderungen im Kontext der Bildungs- und Arbeitswelt das Konzept des lebens­langen Lernens, das nur wenig ­später von der UNESCO, der OECD und auch der EU als ein wesentlicher ­Baustein für gesellschaftliche Entwicklung aufgenommen wurde. Das Konzept des lebenslangen Lernens soll Menschen dabei unterstützen, flexibel auf Veränderungen zu reagieren und sich kontinuierlich weiterzubilden. Wenn diese Erkenntnis bereits in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als wichtig erachtet wurde, so gewinnt sie heute in Anbetracht der zunehmend komplexen und dynamischen Umwelt nochmals an Bedeutung.

Wichtige Kompetenzen in diesem Zusammenhang sind:

  • Anpassungsfähigkeit und  Flexibilität
  • Resilienz und Stressmanagement
  • Systemisches, agiles und kritisches Denken
  • Emotionale Steuerungsfähigkeit und Emotionale Intelligenz
  • Selbstreflexion und Lernbereitschaft
  • Eigenverantwortung und Sinnorientierung
  • Digitale und technologische Kompetenz

Während das Konzept des lebenslangen Lernens hauptsächlich als Reaktion auf äussere Veränderungen ­entstand und als notwendige ­Massnahme betrachtet wird, um sich an neue Gegeben­heiten anzupassen, betont die Selbstaktualisierung die tief verwurzelte, intrin­sische Motivation des Menschen, zu lernen und sein Potenzial zu ­entfalten. Beide Denkansätze zu verbinden, schafft eine Haltung, die Weiterentwicklung und Weiterbildung gesellschaftlich und organisatorisch anders denken würde.

Die Rolle von HR 4.0 in der Lernkultur

Im organisatorischen Umfeld hat mit HR 4.0 bereits ein Umdenken stattgefunden. HR 4.0 betont neben der Notwendigkeit der Modernisierung und Digitalisierung von Personalprozessen vor allem die Notwendigkeit, eine gelebte Lernkultur als festen Bestandteil der Organisationskultur zu entwickeln. Eine lernorientierte Organisationskultur unterscheidet sich deutlich von einer Kultur, die Weiterbildung vornehmlich als Pflichtaufgabe ansieht und vor allem auf Fachkompetenzen fokussiert ist. Eine solche Lernkultur ist von der intrinsischen Motivation aller Menschen überzeugt, sich zu entwickeln und auch einbringen zu wollen. Daher fördert sie individuelle und kollektive Reflexionsräume, und zwar auf allen Hierarchieebenen. Wenn auch die oberste Führungsebene sichtbar zeigt, dass sie an sich selbst die gleichen Erwartungen stellt wie an ihre Mitarbeitenden und auch die entsprechenden finanziellen und zeitlichen Ressourcen bereitstellt, wird eine solche Kultur dazu beitragen, dass Organisationen langfristig erfolgreich sein können.

Zentral erscheint, dass Weiterentwicklung aus vier verschiedenen Perspektiven betrachtet und auch konzipiert wird, damit sie nachhaltig Mensch und Organisation dient. Dafür eignet sich das Modell der «vier Handlungsfelder der Transformation» (angelehnt an Ken Wilber), in dem vier «Räume» beschrieben werden, die es im Rahmen einer
HR-4.0-Strategie zu berücksichtigen gilt.

Die vier Handlungsfelder der Transformation

Der innere Ich-Raum umfasst ­dabei das eigene Erleben und ist der notwendige Reflexionsraum für die Selbstaktualisierung. Die Bereitstellung von Programmen für persönliches Wachstum, wie Coaching, Mentoring oder Workshops zu Themen wie Selbstreflexion, Achtsamkeit, Resilienz und emotionaler Intelligenz, oder auch die Einführung von Meditationsräumen oder virtuellen Tools für Mindfulness-Training wären hier mögliche Angebote.

Der äussere Ich-Raum bezieht sich auf das Verhalten und die Fähigkeiten des Einzelnen – also auf das konkrete, beobachtbare Handeln und die individuellen Kompetenzen. Hier kommen klassische Weiterbildungsmassnahmen ins Spiel, die gezielt Fertigkeiten und Wissen vermitteln. Doch es reicht nicht, sich nur auf diesen Bereich zu konzentrieren, wenn die Lernkultur nachhaltig gestaltet werden soll.

Der Wir-Raum stellt die kollektive, kulturelle Dimension dar – die Werte, Normen und Überzeugungen, die eine Organisation prägen. Eine lernorientierte Organisationskultur im Sinne von HR 4.0 muss eine Kultur schaffen, in der Lernen und Entwicklung als zentral und wertvoll anerkannt werden. Ein solcher Raum basiert auf psychologischer Sicherheit, gegenseitigem Vertrauen und einer gemeinsamen Lernvision.

Der Es-Raum wird gerade bei der Entwicklung einer Lernkultur ­häufig zu wenig beachtet. Hier geht es darum, dass die organisatorischen Strukturen, Prozesse, Technologien und Systeme das unterstützen, was vor allem im inne­ren und äusseren Ich-Raum gelernt wurde.

Dazu gehören fest etablierte ­Formate, die die Selbstreflexion fördern, wie Retro­spektiven, Peer-Coachings, Entwicklungsgespräche, Teamgespräche, Team-Retraite, in denen es nicht nur um inhaltliche Aufgaben geht. Die Etablierung von Formaten, in denen ehrliches Feedback auch hierarchieübergreifend ermöglicht wird und in denen Fehler besprochen werden können, unterstützen eine aktive Lernkultur. Nicht zuletzt sind auch Veränderungen der Arbeitsweisen, wie die Einführung agiler Arbeitsmethoden und transparenter und dyna­mischer Entscheidungsfindung, eine wichtige Komponente.

Das Konzept der vier Handlungsfelder einer Transformation bietet eine hervorragende Grundlage, um HR-4.0-Strategien zu entwickeln, die darauf abzielen, eine gelebte Lernkultur in der gesamten Organisation zu verankern und damit einen Beitrag für nachhaltigen ­Erfolg zu leisten.


Die Autorin: Dr. Bettina Hoffmann-Ripken ist Geschäftsführerin von B.Hoffmann & Network Consulting. Sie ist Dozentin an der Universität St. Gallen sowie an der Hochschule für Wirtschaft in Zürich und Buchautorin («Das Design humaner Unternehmen», 2023).

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