Ein volles Gehalt für nur zehn Stunden Arbeit: Fake Work heizt den Kampf ums Home-Office weiter an Wer von zu Hause aus arbeitet, hat viel mehr Möglichkeiten, seine Arbeit nur vorzutäuschen. Immer mehr Unternehmen beordern ihre Angestellten deswegen zurück ins Büro. Ist das wirklich die Lösung?
Wer von zu Hause aus arbeitet, hat viel mehr Möglichkeiten, seine Arbeit nur vorzutäuschen. Immer mehr Unternehmen beordern ihre Angestellten deswegen zurück ins Büro. Ist das wirklich die Lösung?
Fünf Jahre lang soll ein Beamter aus Rheinland-Pfalz im Home-Office gearbeitet haben – ohne während dieser Zeit auch nur eine einzige Aufgabe erledigt zu haben. Währenddessen wurde der Mann kontinuierlich weiter bezahlt.
Der Fall, der im Dezember durch die deutschen Medien ging, scheint eine Extremversion eines Phänomens zu sein, das Arbeitgeber spätestens seit der Corona-Pandemie beschäftigt: Fake Work.
Der Begriff hat sich als Bezeichnung für Mitarbeiter etabliert, die Arbeit simulieren – vorzugsweise im Home-Office. Ein voller Outlook-Kalender, regelmässige Teilnahme an Online-Meetings und hin und wieder ein paar E-Mails verschicken, und schon hat der Chef den Eindruck, die Angestellten seien fleissig.
Angestellte verbringen viel Zeit mit privaten Angelegenheiten
Das Phänomen ist allerdings nicht neu. Für sein Buch «Empty Labor» hat der Soziologe Roland Paulsen bereits im Jahr 2014 Menschen interviewt, die fürs Nichtstun bezahlt werden. Paulsens Erkenntnis: Eineinhalb bis drei Stunden ist der durchschnittliche Angestellte pro Tag mit privaten Angelegenheiten beschäftigt. Manche von Paulsens Interviewpartnern gaben sogar an, die Hälfte der Zeit etwas anderes zu tun, als zu arbeiten.
Und das zu einer Zeit, in der viel weniger Menschen die Möglichkeit hatten, von zu Hause aus zu arbeiten. Mit dem Aufkommen des Home-Office, so die Befürchtung vieler Chefs, sind die Möglichkeiten zur Fake Work grösser geworden. Wenn sich die Mitarbeiter schon im Büro so viel mit anderen Dingen beschäftigen, wie soll das dann erst zu Hause aussehen?
Wie produktiv Menschen im Home-Office wirklich sind, ist allerdings nach wie vor unklar. Die Antwort auf die Frage hängt auch davon ab, wem man sie stellt. Laut einem Report der Universität Stanford sind Mitarbeiter der Ansicht, sie seien zu Hause produktiver – weil es dort weniger Ablenkung durch Kollegen gibt und man sich seine Zeit frei einteilen kann. Führungskräfte hingegen sind der Ansicht, die Mitarbeiter seien weniger produktiv.
Produktivität ist oft schwer zu messen
Unter dem Strich scheinen Letztere recht zu haben: Eine Analyse mehrerer Studien, die die Uni Stanford durchführte, ergab, dass das Arbeiten im Home-Office einen Produktivitätsrückgang von 10 bis 20 Prozent mit sich bringt. Als Gründe nennt der Report Schwierigkeiten bei Kommunikation und Koordination, geringere Kreativität und das Fehlen von Mentoring und Feedback.
Wie stark dieser Produktivitätsrückgang tatsächlich ausfällt, ist allerdings von Studie zu Studie verschieden. Ein Beispiel: Eine Untersuchung in einem Callcenter aus dem Sommer 2023 mass weniger Leistung der Telefonistinnen und Telefonisten im Home-Office. Sie verloren Zeit, weil sie ihre Kollegen nicht eben um Rat bitten konnten, sondern erst einen Chat oder einen Videoanruf starten mussten. Somit konnten sie pro Arbeitstag weniger Anrufe entgegennehmen.
Die Produktivität in einem Callcenter ist verhältnismässig einfach zu messen, in vielen anderen Berufen ist das schon schwieriger. Das gilt besonders für sogenannte Knowledge-Workers, hochqualifizierte Fachkräfte, deren Hauptkapital ihre Expertise ist: wissenschaftliche Mitarbeiter, Webdesigner, IT-Spezialisten oder Werbetexter. Gleichzeitig ist es in diesen Berufen oft besonders gut möglich, von zu Hause aus zu arbeiten.
Manche können besonders gut simulieren
Für wirklich erfolgreiche Fake Work seien zwei Faktoren zentral, glaubt Roland Paulsen: Der Mitarbeiter braucht einen gewissen Grad an Autonomie, hat also eine etwas höhere Position. Und er hat einen Wissensvorteil und kann Expertise glaubhaft machen.
Wer sich ein wenig umhört und anonyme Berichte in Internetforen liest, findet für diese Aussage zahlreiche Belege: den Informatiker, der effektiv zehn von vierzig Stunden arbeitet und in der restlichen Zeit Serien schaut und Joints raucht. Die Werbetexterin, die die meiste Zeit an ihrem eigenen Blog arbeitet, weil ihre Kunden nicht wissen können, wie lange sie an einem Text sitzt. Den Bankangestellten, der für ein Projekt zuständig ist, für das er fünfzehn Minuten am Tag effektiv arbeiten muss. Auch im Fall des rheinland-pfälzischen Beamten soll niemand so wirklich gewusst haben, was seine Aufgaben waren, die Stabsstelle war erst neu geschaffen worden.
Kommt nun das Ende des Home-Office?
Geschichten wie diese sind wohl der Hauptgrund dafür, warum immer mehr Arbeitgeber inzwischen das Ende des Home-Office ausrufen. Beim grössten deutschen Autobauer, VW, gilt seit Ende 2023 eine Präsenzpflicht für Führungskräfte, der Softwarekonzern SAP will seine Mitarbeiter zu drei Bürotagen pro Woche verpflichten. Banker bei Goldman Sachs müssen mittlerweile sogar wieder jeden Tag ins Büro kommen.
Bei einer internationalen Befragung der Beratungsgesellschaft KPMG gaben 64 Prozent der Konzernchefs an, eine vollständige Rückkehr zur Arbeit im Büro innerhalb der nächsten drei Jahre zu planen. 87 Prozent gaben an, Boni und Beförderungen mit der Rückkehr ins Büro verknüpfen zu wollen. Die Umfrage zeigt: Der Kampf ums Arbeiten von zu Hause aus wird auch in diesem Jahr erbitterter werden. Denn die meisten Angestellten denken nicht im Traum daran, vollständig auf diese Möglichkeit zu verzichten.
Die Faktenlage ist kompliziert, wer sucht, findet ebenso viele Gründe gegen das Home-Office wie dafür. Auch eine erzwungene Präsenzkultur kann schliesslich negative Auswirkungen auf die Produktivität (und natürlich die Zufriedenheit) der Mitarbeiter haben. Fest steht: Gerade für engagierte Fake Worker könnte eine Rückkehr ins Büro fatale Folgen haben.
Transparenz und Motivation sind zentral
Denn wer einmal mit der Fake Work begonnen hat, kommt schwer wieder davon weg. «Wenn du zugibst, dass du wenig zu tun hast, gibst du auch zu, wie wenig du bisher getan hast», sagt der Soziologe Paulsen. Eine Folge könnte sein, dass die eigene Stelle auf eine Teilzeitstelle reduziert wird, oder sogar, dass der Mitarbeiter entlassen wird.
Dabei wäre das der wichtigste Punkt: zu verhindern, dass derartige lange Leerläufe entstehen, egal, ob zu Hause oder im Büro. Dafür ist transparente Kommunikation nötig – und eine gewisse intrinsische Motivation der Mitarbeiter, die sich mit den Zielen des Unternehmens identifizieren. Dass das schwieriger umsetzbar ist als Home-Office-Regelungen, versteht sich von selbst.
Dabei zeigt gerade der Fall des rheinland-pfälzischen Beamten, dass Angestellte, wenn sie die richtigen Aufgaben erhalten, durchaus motiviert arbeiten: Wie die Kommunalaufsicht mitteilte, ist der Beamte seit einem Jahr wieder regulär im Dienst, es gebe nichts zu beanstanden. Der zuständige Bürgermeister muss allerdings wohl mit Konsequenzen rechnen, gegen ihn läuft eine Untersuchung. Schliesslich war er es, der den Mitarbeiter ins Home-Office versetzte und ihm dort keine Aufgaben zuteilte.
Nelly Keusch, «Neue Zürcher Zeitung»