IV-Rekord bei den Jungen: Nur ein Drittel der psychisch Erkrankten schafft den Einstieg in die Berufswelt Werden Junge zu leichtfertig in die IV-Rente abgeschoben? Deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind deutlich schlechter als bei den Älteren.

Werden Junge zu leichtfertig in die IV-Rente abgeschoben? Deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind deutlich schlechter als bei den Älteren.

Der Start in die Arbeitswelt ist eine kritische Lebensphase. Eine Therapie kann dabei wertvolle Unterstützung bieten. (Bild: Julia Taubitz auf Unsplash)

Der Anstieg ist dramatisch: 10 000 neue Renten wegen psychischer Erkrankung hat die Invalidenversicherung im letzten Jahr gesprochen. Das ist ein Fünftel mehr als im Vorjahr. Am stärksten ist die Zunahme in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen: Bei den Jungen hat sich die Zahl der Neurenten innert zehn Jahren verdoppelt.

Zu den Betroffenen zählt ein 20-jähriger Mann aus der Innerschweiz. In Absprache und mit Finanzierung der IV besuchte er die Mittelschule. Intellektuell konnte er gut mithalten, doch führten psychische Probleme zum Schulabbruch. Statt als Alternative aber eine Berufslehre zu ermöglichen, eröffnete die IV den Prozess für eine Invalidenrente.
 

«Ich erlebe es wiederholt, dass man junge Menschen gegen ihren Willen in die Rente abschiebt und ihnen dadurch die Chance auf eine berufliche Eingliederung verbaut», sagt die Psychotherapeutin Karin Gfeller Grehl vom Zentrum für Systemische Therapie in Bern, die auch als Dozentin arbeitet. Es sei absurd, dass Personen, die psychisch ohnehin angeschlagen seien, gegen die Behörden ankämpfen müssten, um eine Chance in der Berufswelt zu erhalten.

Arbeit als Mittel zur Heilung

«Die Arbeit eignet sich als Therapie: Wer etwas Sinnhaftes tut, kann eine Krise leichter überwinden. Stattdessen werden die Betroffenen zum Nichtstun verurteilt», kritisiert Gfeller Grehl. Beim obersten IV-Verantwortlichen Martin Schilt stossen diese Worte auf offene Ohren. Die Beschäftigung sei ein wichtiger Faktor für die soziale Anerkennung, sagt der Präsident der IV-Stellen-Konferenz. «Besonders junge Menschen leiden darunter, wenn sie das Gefühl haben müssen, dass für sie kein Platz in der Gesellschaft vorhanden ist.»

Der Entscheid für eine Rente könne auf manche wie eine Bankrotterklärung wirken, sagt Schilt. Doch die IV sei schon heute eine eigentliche Integrationsversicherung. Allein im letzten Jahr wurden 42 000 Eingliederungsfälle bearbeitet. Nach Auskunft des IV-Leiters schaffen insgesamt 55 Prozent den Wiedereinstieg. Bei den Jungen dagegen erreicht die Erfolgsquote lediglich 29 Prozent. «Für sie ist der Schritt schwieriger, weil ihnen oft die Sozialisierung im Berufsalltag fehlt.»

Viele landen bei der Sozialhilfe

In dieser Altersgruppe sei es daher notwendig, weiter zu investieren und die Erfolgsrate zu steigern. Seit der IV-Revision von 2007 gilt der Grundsatz «Eingliederung vor Rente». «Doch die IV-Stellen nehmen dieses Prinzip bis heute zu wenig ernst», sagt Helene Hartmann. «Wir müssen uns bewusst sein, dass junge Menschen, die keine Arbeitserfahrung sammeln konnten und dann eine Rente erhalten, später mit grosser Sicherheit beim Sozialamt landen.»

Hartmann spricht aus Erfahrung. Nach ihrer Tätigkeit bei der IV hat sie 2015 eine eigene Jobcoaching-Firma gegründet. Diese übernimmt für zahlreiche Gemeinden die berufliche Integration von Sozialhilfeempfängern. «Der Rentenentscheid wirkt bei jungen Menschen oftmals kontraproduktiv: Sie sehen, dass Geld hereinkommt, und verlieren erst recht ihre Tagesstruktur.» Deshalb müsse die Rente an klare Integrationsziele geknüpft werden.

Auch für dieses Anliegen hat Martin Schilt Verständnis. «Eine gesprochene Rente führt dazu, dass wir diese Person nicht mehr begleiten können – für die IV-Stelle ist der Fall abgeschlossen. Das ist vom Gesetz her so vorgegeben.» Gerade bei jungen Menschen wäre es sinnvoll, eine Rente zu befristen oder an Bedingungen zu knüpfen, ergänzt der IV-Verantwortliche.

Die Erfolgsquote bei der Wiedereingliederung möge auf den ersten Blick als tief erscheinen, räumt Schilt ein. Doch der Eindruck täusche, denn die IV gebe jedes Jahr 1,5 bis 2 Milliarden Franken für die berufliche Integration aus. Dies sei gut investiertes Geld: «Berechnungen zeigen, dass die IV dadurch Rentenausgaben von einer Milliarde Franken im Jahr einsparen kann – und zwar netto, abzüglich aller Aufwendungen.» Allerdings steige mit den Fallzahlen der Spardruck und damit die Gefahr, dass man Betroffene weniger eng begleiten könne.

Gutachten fressen wertvolle Zeit

Gleichzeitig kämpft die IV mit einer zunehmenden Bürokratisierung. «Ich betreue junge Patienten, für die bereits drei verschiedene Gutachten erstellt wurden», sagt Karin Gfeller Grehl. «Doch mit jeder ärztlichen Untersuchung geht erneut wertvolle Zeit verloren. Die Betroffenen werden hingehalten – obwohl die zusätzlichen Berichte nur selten zu einer besseren Einschätzung führen.»

Besonders beim Einstieg in die Berufswelt sei der Zeitfaktor entscheidend, betont die Psychotherapeutin. Das gilt ebenso für den früheren Mittelschüler aus der Innerschweiz. Aufgrund des Schulabbruchs ist sein Fall seit einem halben Jahr in der Schwebe. Mit einem Motivationsschreiben will er nun aufzeigen, dass eine weitere Ausbildung doch noch gelingen kann. Involvierte gehen davon aus, dass er bis im Herbst auf einen Entscheid warten muss. Die lange Ungewissheit belaste ihn.

Martin Schilt beobachtet ebenfalls, dass Gutachten zu Verzögerungen führen. Ein Grund sei der Mangel an Fachpersonen, die solche Abklärungen durchführen können. Einen weiteren Faktor sieht er in der zunehmenden «Medikalisierung» von psychischen Leiden: «Statt bei den eigentlichen Ursachen im Umfeld anzusetzen, wird die Problemlösung zunehmend an medizinische Gutachter übertragen.»

Laut IV-Statistik werden pro Jahr 11 000 solche Expertisen in Auftrag gegeben. Das habe auch mit den Gerichten zu tun. Denn diese verlangten von der IV, in Streitfällen alle nötigen Abklärungen nachzuweisen, so Schilt. Trotzdem bemühten sich die IV-Stellen um Zurückhaltung bei den Gutachten – auch weil diese oft erhebliche Unschärfen aufwiesen: «Ärzte sind keine Berufsberater, daher ist es für sie anspruchsvoll, die Arbeitsfähigkeit einer Person zu beurteilen.» Nebst dem medizinischen Wissen brauche man ebenso den Einblick in den Arbeitsmarkt.

Der schwierige Entscheid, wer eine Rente erhalten soll, liegt in der Zuständigkeit der kantonalen IV-Stellen. Fachleute berichten, dass sich deren Praxis stark unterscheide – was sich in der Statistik zeigt: Kantone wie Genf oder Waadt bewilligen fünfmal mehr Renten aus psychischen Gründen wie Appenzell Innerrhoden.

Das föderalistische Vorgehen sei gleichwohl richtig, sagt Martin Schilt als Präsident der IV-Stellen-Konferenz, welche die 26 Kantone vertritt: «Im Wallis hat der Arbeitsmarkt ein ganz anderes Profil als in einer Stadt wie Zürich.» Diese Nähe zur Basis helfe, neue Konzepte zu entwickeln. So verlagere der Kanton Zürich seinen Fokus zunehmend von der Integration auf die Prävention: «Damit wollen wir noch früher ansetzen und verhindern, dass überhaupt eine Therapie nötig wird.» Zu diesem Zweck habe die IV-Stelle ein Plattform geschaffen, auf der Eltern, Lehrpersonen oder Arbeitgeber eine erste Meldung erstatten können, sobald sie Warnsignale erkennen.

Bessere Antworten auf die psychischen Probleme der jungen Generation sind dringend gefragt: Denn eine jahrzehntelange Berentung kostet nicht nur viel Geld. Sie bedeutet vor allem eine Verschwendung von Talent und Schaffenskraft – in einer Zeit, da ohnehin grosse Lücken auf dem Arbeitsmarkt entstehen.
 
Alber Steck, «Neue Zürcher Zeitung»

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