Lohnrunde 2024: Die forschen Gewerkschaftsforderungen von 5 Prozent mehr Lohn bleiben für viele Arbeitnehmer Phantasie Die Klagen über einen Arbeitskräftemangel sind vor allem seit 2022 ungewöhnlich breit. Und trotzdem sind die Reallöhne heuer tiefer als vor zwei Jahren. Die Gewerkschaften orten klaren Nachholbedarf. Doch das kann man auch ganz anders sehen.
Die Klagen über einen Arbeitskräftemangel sind vor allem seit 2022 ungewöhnlich breit. Und trotzdem sind die Reallöhne heuer tiefer als vor zwei Jahren. Die Gewerkschaften orten klaren Nachholbedarf. Doch das kann man auch ganz anders sehen.
Wir fordern mehr. Das ist das Mantra der Gewerkschaften. Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Rente – aber bitte nicht mehr Arbeit oder mehr Stress. Die Sommerferien haben vielerorts noch nicht begonnen, aber schon haben die Gewerkschaften am Freitag in Bern rhetorisch die Lohnrunde 2024 lanciert. Und natürlich forderten sie wie gewohnt markante Lohnanstiege – von nominal 5 Prozent pro Jahr im Mittel.
Begründungen für solche Forderungen findet man immer: die Wirtschaftslage, einen «Nachholbedarf», die Teuerung, abzockende Chefs, steigende Krankenkassenprämien. Die Wirtschaftslage ist zurzeit allerdings eher schwach. Konjunkturbeobachter rechnen zudem mit einem flauen zweiten Halbjahr. Laut der mittleren Schätzung der Konjunkturprognostiker dürfte die Volkswirtschaft im laufenden Jahr real nur um knapp 1 Prozent wachsen und damit pro Einwohner etwa stagnieren. Im nächsten Jahr soll das Wachstum mit 1,6 Prozent wieder etwas stärker sein.
Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer
Trotzdem sind die Klagen der Arbeitgeber über einen Mangel an Arbeitskräften seit 2022 ungewohnt breit. Die zwei meistgenannten Gründe sind der Nachholbedarf nach der Corona-Pandemie und die Demografie (geburtenstarke Jahrgänge gehen in Rente). Gemessen an den Firmenumfragen der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) wurde zwar bezüglich Rekrutierungsplänen die Spitze schon im vergangenen Herbst überschritten. Aber auch im zweiten Quartal dieses Jahres überstiegen die Absichten für Anstellungen jene für Abbau immer noch deutlich. Das gibt manchen Arbeitnehmern Verhandlungsmacht.
Bei breiten Mangelerscheinungen würde man Bemühungen der Arbeitgeber erwarten, ihre Stellen attraktiver zu machen. Lohnerhöhungen sind ein naheliegendes Mittel dazu. Eine Variante für Arbeitgeber wäre, Lohnerhöhungen auf speziell gesuchte Arbeitskräfte zu beschränken und die angestammte Belegschaft nicht daran teilhaben zu lassen. Dann würde man in den gesamtwirtschaftlichen Lohnstatistiken nicht viel Bewegung sehen. Doch eine solche Strategie birgt das Risiko, dass Lohnunterschiede zwischen neuen und angestammten Angestellten ans Licht kommen und Spannungen erzeugen. Dies erhöht auch gleichzeitig das Risiko für Abwerbungen.
Die Gewerkschaften fordern naturgemäss möglichst starke generelle Lohnerhöhungen, während die Arbeitgeber möglichst hohe Flexibilität wollen. Budget- und Margendruck begrenzen typischerweise das Potenzial für breite Lohnerhöhungen. Für die Attraktivitätssteigerung für Arbeitskräfte gibt es Alternativen, die nicht unbedingt direkt das Budget belasten: das stärkere Akzeptieren von Teilzeitpensen sowie von Arbeit im Heimbüro, familienfreundliche Arbeitszeitflexibilität und Toleranz gegenüber Sonderwünschen (wie etwa unbezahlter Urlaub).
Weniger Kaufkraft 2022
Doch gibt es Nachholbedarf bei den Löhnen? Wer solchen sucht, findet ihn. Gemessen am Lohnindex der Bundesstatistiker sind im vergangenen Jahr die Reallöhne im Mittel um fast 2 Prozent geschrumpft. Und im laufenden Jahr dürften die Löhne real laut jüngsten Prognosen etwa auf dem Niveau von 2022 bleiben. Reallohnsenkungen kommen oft dann vor, wenn die Teuerung deutlich höher ist, als man zum Zeitpunkt der Lohnverhandlungen erwartet hatte. 2022 war ein solches Jahr. Typischerweise gleicht sich das über die Folgejahre wieder aus.
Wer weiteren Nachholbedarf sucht, könnte mit geschickter Auswahl des Zeitraums auch feststellen, dass die Kaufkraft der Löhne 2022 tiefer war als 2016 und deshalb endlich wieder eine Reallohnerhöhung fällig sei. Dass es dazwischen mal eine Pandemie gab, muss man ja nicht erwähnen. Doch Reallohnerhöhungen sind kein Naturgesetz. Sie müssen durch entsprechend höhere Produktivität verdient werden.
Warum sind jüngst die Reallöhne trotz verbreiteten Klagen über Arbeitskräftemangel nicht gestiegen? Befragte Beobachter bringen einige Mutmassungen vor: begrenzte Finanzmittel vieler öffentlichen und privaten Arbeitgeber, grosse Unsicherheiten wegen des Kriegs in der Ukraine und der Energiekrise, Fokus auf Attraktivitätssteigerung ausserhalb des Lohnbudgets, magere Entwicklung der Arbeitsproduktivität.
Das Phänomen seit 2022 mit der Kombination von eher verhaltener Wirtschaftslage und deutlicher Beschäftigungszunahme heisst faktisch, dass die Arbeitsproduktivität in letzter Zeit schwach verlief. Gemäss den KOF-Daten war die Arbeitsproduktivität pro Vollzeitbeschäftigten 2022 rückläufig, und sie dürfte auch im laufenden Jahr sinken. Laut diesen Daten liegt heuer die Arbeitsproduktivität pro Vollzeitstelle etwa 1,5 Prozent tiefer als 2019, dem Jahr vor Ausbruch der Corona-Krise. Besser sieht das Bild bei der Produktivität pro Arbeitsstunde aus. Im Prinzip ist für die Lohndiskussion die Produktivität pro Vollzeitstelle massgebend, da Arbeitszeitverkürzungen auch zu verdienen sind. Doch es gibt hier laut KOF-Angaben statistische Ungereimtheiten, die zurzeit nicht geklärt sind.
Klarer ist: Im langfristigen Trend steigt die Produktivität, und die Kaufkraft der Löhne steigt mit. So waren 2022 gemessen am Bundesindex die Reallöhne im Durchschnitt knapp 6 Prozent höher als 2010 und rund 13 Prozent höher als im Jahr 2000 (vgl. Grafik).