«Prinzipiell gut vermittelbar»: Ein Selbstversuch bei der Laufbahnberatung Der Mangel an qualifiziertem Personal ist so hoch wie nie. Jetzt könnte also der Moment sein, um einen neuen Beruf zu ergreifen.
Der Mangel an qualifiziertem Personal ist so hoch wie nie. Jetzt könnte also der Moment sein, um einen neuen Beruf zu ergreifen.
Michael Chiller findet, es sei eigentlich gar nicht so wichtig, was ich könne oder nicht könne. «Am wichtigsten ist, was Sie interessiert, denn viele Tätigkeiten sind Learning by Doing.» Chiller ist Berufsberater beim Laufbahnzentrum der Stadt Zürich. In seinem Büro unweit des Hauptbahnhofs nimmt er sich an einem Dienstagmorgen eine Stunde Zeit, um mit mir darüber zu sprechen, was mir bei meiner Arbeit wichtig ist.
Möglichst abwechslungsreich sollte meine neue Tätigkeit sein – und sinnstiftend. In einem grossen Unternehmen zu arbeiten, schreckt mich ab, lieber wäre ich bei einem Startup oder einem Think-Tank tätig. «Sie sind früh dran, das ist gut», sagt Chiller. «Viele kommen erst in die Laufbahnberatung, wenn ihr Leidensdruck bereits sehr gross ist.» Aber der Weg zu einem neuen Beruf oder auch zu einer neuen Stelle brauche Zeit.
Gesucht: Gesundheits- und IT-Fachleute
Beim Laufbahnzentrum der Stadt Zürich, aber auch bei privaten Karriereberatern kann man sich darüber informieren, welche Möglichkeiten man hat, wenn man einen anderen Karrierepfad einschlagen möchte. Nie, so scheint es, war der Zeitpunkt dafür so günstig wie jetzt. In diesem Jahr erreichte der Fachkräftemangel in der Schweiz laut dem Personaldienstleister Adecco einen Rekordwert. Fast überall gibt es mehr Stellen als Bewerberinnen und Bewerber. Besonders gesucht sind Spezialisten in Gesundheitsberufen sowie in der IT.
Im Journalismus dagegen gibt es nach wie vor einen deutlichen Überschuss an Fachleuten. Dieser wird durch die wirtschaftliche Situation der Medienhäuser verschärft. Fast alle Redaktionen bauen Stellen ab. Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Soll ich also meinen Beruf wechseln? Noch ist genügend Zeit, ich bin jung und habe erst vor zwei Jahren im Journalismus angefangen. Doch wie finde ich heraus, welcher Job passt?
Christa Heer ist selbständige Berufsberaterin mit eigener Praxis in Zürich. Auch sie betont, dass auf der Suche nach einer neuen Tätigkeit vor allem die Interessen eine Rolle spielen sollten – und nimmt mir zugleich die Illusion von einem schnellen, spontanen Berufswechsel. «Gerade bei hochqualifizierten Berufen werden Diplome und Abschlüsse immer wichtiger», sagt Heer. «Viele Arbeitgeber erwarten immer noch, dass man qualifiziert ist und direkt mit der Arbeit beginnen kann.»
Um ein Praktikum und eine berufliche Weiterbildung werde ich laut Heer in den meisten Fällen wohl nicht herumkommen. «Lebenslanges Lernen» nennt die Berufsberaterin das. Dennoch sieht sie einige Bereiche, in denen ich mit überschaubarem Aufwand unterkommen könnte: Neben der Kommunikation, dem Hauptausstiegsweg für Journalisten, kämen Tätigkeiten im Marketing, im Bereich Information und Dokumentation oder in der Entwicklung von Lehrmitteln infrage.
Auch im Lehrberuf könnte ich unterkommen – oder im Personalwesen: «Sie haben Erfahrung darin, Interviews zu führen und Leute einzuschätzen. In diesem Bereich ist das sehr von Vorteil.»
Marco Riso, Branch Manager beim Personalvermittler Randstad, hält mich prinzipiell für gut vermittelbar. Ich habe einen Bachelor-Abschluss und eine kaufmännische Berufslehre und habe einige Praktika und Nebenjobs absolviert, bevor ich bei der NZZ zu arbeiten begann. «In meinem Bereich, der sich vor allem mit Bürojobs beschäftigt, könnte ich dich gut unterbringen», glaubt Riso. Um weiterzukommen, könne ich dann immer noch eine Weiterbildung in Form eines MAS- oder CAS-Abschlusses machen.
Riso ist sich sicher, dass ich mit einem Quereinstieg heute mehr Chancen hätte als noch vor ein paar Jahren. «Die Arbeitgeber sind flexibler geworden. Sie haben erkannt, dass sie Abstriche machen und auch einmal eine Person einstellen müssen, die nicht zu hundert Prozent auf eine Stelle passt.»
Quereinstiege würden häufiger, vor allem, seit die Corona-Pandemie einige Arbeitnehmer zum Umdenken gezwungen habe. Auch, wer nicht mehr Mitte 20 sei, habe Chancen: «Der Arbeitsmarkt hat sich immer mehr zu einem Arbeitnehmermarkt entwickelt.» Wer älter sei, bringe Erfahrung in der Berufswelt mit. Christa Heer ist da skeptischer, schliesslich seien jüngere Arbeitskräfte in der Regel deutlich günstiger.
Gutes Netzwerk ist wichtig
Wer sich auf ausgeschriebene Stellen bewirbt, die nur bedingt zum eigenen Lebenslauf passen, scheitert auch oft am automatisierten Aussiebeverfahren in den Personalabteilungen. Chiller, Heer und Riso sind sich darum einig: Um den Beruf zu wechseln, braucht man vor allem ein gutes Netzwerk. «Gehen Sie einen Kaffee trinken mit Leuten aus den Branchen, die Sie interessieren», empfiehlt Chiller.
Heer rät dazu, das Linkedin-Profil zu pflegen und Kontakte aufzubauen. Der Personalvermittler Marco Riso gibt sich überzeugt, bei Kontakten zu Unternehmen aushelfen zu können. «Es gibt nach wie vor viele Stellen, die nicht ausgeschrieben sind, sondern unter der Hand vermittelt werden.»
Nach den Gesprächen ist mir klar: Für mich bleibt der Journalismus erste Wahl, trotz der Unsicherheit. Aber ich habe Alternativen kennengelernt. Zu wissen, dass man wechseln kann, beruhigt. Und wenn ich weiterhin einen Beruf haben möchte, in dem ich ständig neue Leute kennenlernen und mir ihre Geschichten und Ideen anhören darf, gibt es laut Christa Heer noch eine andere Option: «Nach einem Praktikum und einem weiterbildenden Studium können Sie auch als Berufsberaterin anfangen.»
Nelly Keusch, «Neue Zürcher Zeitung»