Verschiedene Firmen bestätigen, dass ihre Mitarbeiter im vergangenen Jahr häufiger gefehlt haben. Doch das Bild ist uneinheitlich.
- Bei den SBB sind die gesundheitsbedingten Absenzen zwischen 2021 und 2022 von 14 auf 16,6 Tage gestiegen. Das ist sogar im Vergleich mit dem hohen Durchschnittswert für den Bereich Verkehr und Lagerei (11,2 Tage) eine hohe Zahl. Allerdings ist sie nur bedingt vergleichbar, weil die Bundesbahnen mit einer 7-Tage-Woche kalkulieren und zudem einen hohen Anteil an Langzeitabsenzen haben.
- Auch bei der Post sind die Absenzen 2022 gestiegen – in Brief- und Paketzentren stärker als in Bürofunktionen. Einen Grund für die erhöhten Absenzen sieht das Unternehmen in der älter werdenden Belegschaft, bei der Krankheiten oft mit längeren Abwesenheiten einhergehen. Um die Reintegration zu fördern, werden Schulungen für Vorgesetzte durchgeführt.
- Der Detailhändler Coop hat eine leichte Zunahme festgestellt, die jedoch «tiefer war als der Schweizer Durchschnitt».
- Bei der Migros nimmt man «analog der gesamtschweizerischen Entwicklung» einen Anstieg der Absenzen wahr.
- Die Absenzenrate bei Novartis hat sich nach einem Rückgang in den Pandemiejahren wieder leicht erhöht und liegt nun wieder auf dem Niveau von vor Corona. Einen signifikanten Anstieg verzeichnet der Pharmakonzern seit 2022 bei den Langzeitabsenzen (über 90 Tage).
- Hingegen hat das Pharmaunternehmen Roche 2022 und 2023 keine Zunahme der Absenzen festgestellt.
- Bei der Baufirma Implenia sind sowohl beim Personal im Büro als auch auf den Baustellen die krankheitsbedingten Absenzen ebenfalls stabil geblieben. Zudem ist die Unfallrate auch nach dem Rückgang während der Pandemie 2022 weiter gesunken.
Die Zahlen des Bundesamts für Statistik, welche die Tamedia-Zeitungen kürzlich aufbereitet haben, lassen keine Rückschlüsse darauf zu, warum die Absenzen zugenommen haben. Entsprechend spekulativ sind darum auch Erklärungsversuche von Fachleuten zu dem Thema.
Erklärungsansatz 1: Ein einmaliges Ereignis?
Sicher ist, dass es sich nicht um ein Schweizer Phänomen handelt. Eine ähnliche Entwicklung lasse sich auch in Deutschland und in anderen Ländern beobachten, sagt Stefan Felder. Der Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Basel ist jedoch vorsichtig mit Interpretationen für die Gründe.
Die wahrscheinlichste Erklärung ist für ihn, dass im Jahr nach Corona die Grippewelle die Bevölkerung stärker getroffen hat, weil ein Teil der Leute nach dem Rückzug während Covid ein geschwächtes Immunsystem hatte. In diesem Fall wäre es ein vorübergehendes medizinisches Problem, und es wäre zu erwarten, dass sich die Situation in den nächsten Jahren wieder normalisiert. «Für mich sieht es nach einem einmaligen Ereignis aus», sagt Felder.
Was die Kosten der Absenzen etwa für die Versicherungen anbelangt, so würde das erst dann zum Problem, wenn die Absenzen systematisch höher blieben. «Doch wenn es sich um einen Ausreisser handelt, so ist das ähnlich, wie wenn die Gebäudeversicherung einmal ein Jahr mit schweren Unwettern zu bewältigen hat.»
Erklärungsansatz 2: Psychische Krankheiten
Darüber, wie rasch das Phänomen abklingen wird, gehen die Einschätzungen auseinander. Der Gesundheitsökonom Willy Oggier vermutet eine Zunahme von psychischen Erkrankungen als einen der Gründe hinter den gestiegenen Absenzen. Denn diese sorgten für rund doppelt so lange Abwesenheiten wie physische Krankheiten oder Unfälle.
Hier dürfte der Effekt, den die Pandemie gerade auch auf Jugendliche hatte, wohl nicht so rasch verschwinden, befürchtet Oggier. «Ich hoffe, dass die Politik diese Entwicklung im Auge behält.» Andernfalls bestehe die Gefahr, dass mittel- bis langfristig hohe Folgekosten für die Invalidenversicherung entstünden, wenn junge Menschen über eine längere Zeit reduziert oder gar nicht arbeiten könnten.
Tatsächlich hat sich in der Pandemie die Anzahl junger Frauen, die psychiatrische Hilfe gesucht haben, auffällig erhöht. Wie das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) in einem Bulletin zur psychischen Gesundheit schreibt, sind die Psychiatriekosten seit 2006 steigend und haben 2021 wieder stärker zugenommen als 2020. Der Anteil an den Gesamtkosten der obligatorischen Krankenversicherung sei jedoch seit Jahren stabil.
Ob die Zunahme von psychischen Krankheiten damit zu tun hat, dass diese entstigmatisiert, also gesellschaftlich besser akzeptiert sind, oder ob sie eine Folge von mehr Stress am Arbeitsplatz ist, darüber gehen die Meinungen auseinander.
Während Arbeitnehmervertreter die Stress-These vertreten, ist die Gegenseite zurückhaltender: «Die Gründe für eine krankheitsbedingte Abwesenheit müssen nicht zwingend mit dem Job zu tun haben. Das wäre ein vorschneller Schluss», sagt Stefan Heini vom Arbeitgeberverband. «Die Gesundheits- und Unfallrisiken sind im privaten Umfeld mindestens so hoch.»
Erklärungsansatz 3: Sinkende Hemmschwelle bei Absenzen
Plausibel scheint der Umstand, dass die Hemmschwelle, sich krank zu melden, mit Corona generell gesunken ist. Das vermutet man auch beim Versicherer Axa. Dieser hat bei der Anzahl Krankentaggeld-Fälle 2022 «insbesondere bei den Kurzabsenzen einen signifikanten Anstieg gegenüber den Vorjahren» festgestellt.
Während der Pandemie wurden Arbeitnehmer aufgefordert, bei Krankheitssymptomen zu Hause zu bleiben. Gut möglich, dass die Erkenntnis, dass man mit Husten und Fieber besser nicht ins Büro kommt, über die Covid-Zeit hinaus in den Köpfen hängen bleibt. Nachweisen lassen sich diese Erklärungen freilich nicht.
Die Axa beobachtet auch im laufenden Jahr zwar immer noch ein «hohes Niveau» bei den Kurzabsenzen, aber gleichzeitig eine Entspannung gegenüber 2022. Das deckt sich mit Beobachtungen in einzelnen der befragten Unternehmen. So spricht etwa die Post von einer Stabilisierung bei den Absenzen. Und bei Coop heisst es, die Zahl der Absenzen im laufenden Jahr sei bis jetzt tiefer als 2022.