Sinkendes Niveau, miserable Lehrmittel, verfilzte Strukturen: das Krisen-KV Die beliebteste Berufslehre des Landes war immer der Inbegriff der Schweizer Solidität. Nun ist sie ein Sorgenkind. Wie konnte es so weit kommen?
Die beliebteste Berufslehre des Landes war immer der Inbegriff der Schweizer Solidität. Nun ist sie ein Sorgenkind. Wie konnte es so weit kommen?
Die Angst war bei vielen Lehrern immer da, dass die KV-Reform ihr Arbeiten erschweren und die Schüler überfordern, dass das Niveau sinken werde. Und das in der beliebtesten Berufslehre der Schweiz: 13 000 junge Menschen beginnen jedes Jahr die Ausbildung. Seit eineinhalb Jahren ist das neue Regime nun implementiert, und Michael Pesaro sagt desillusioniert: «Es ist noch schlimmer gekommen, als wir befürchtet haben.»
Pesaro ist KV-Lehrer in Zürich und Vizepräsident des Zürcher Verbandes der Lehrkräfte in der Berufsbildung (ZLB). Und einer der wenigen Pädagogen, die öffentlich sprechen, was auch daran liegt, dass der ZLB durchaus als Hort des Widerstands gegen das grosse Schweigen im Schweizer Bildungswesen bezeichnet werden kann. Für Pesaro ist das neue KV-Konzept bereits jetzt gescheitert: «Dass Wissen heute als unnötig angesehen wird, alles über Kompetenzen laufen soll: Das halte ich für gefährlich. Ohne Wissen kommt man nirgends hin. Und kann schon gar nicht vernetzt denken – und dafür hat man ja die Reform gemacht.» Einen besonderen Anteil an der Misere hatten dabei die Lehrmittel, die seit der Reform verwendet werden. Sowohl das analoge als auch das digitale Material fällt bei kritischen Lehrern durch.
Auch Konrad Kuoni, Präsident des Zürcher Verbandes der Lehrkräfte in der Berufsbildung, sagt, dass es in Zürich mittlerweile die Anweisung gibt, «dass nahezu alle Unterrichtsunterlagen selber vorbereitet werden müssen». Weil die Lehrmittel nichts taugten. Obschon die Lehrer genau vor diesem Szenario gewarnt haben. An diesem Beispiel zeigt sich, wie sehr das neue System krankt. Und woran.
«Derart schlecht»
Nicht nur in Zürich ist die Stimmung schlecht. Auch in St. Gallen, in der Bildung ein führender Kanton, gibt es viel Kritik aus dem kantonalen Verband. Das «St. Galler Tagblatt» berichtete von «kompletter Überforderung der Lernenden, Frustration und gesundheitlichen Problemen bei den Lehrpersonen». Schuld: die Lehrmittel. Der Leistungsabbau: «massiv». Das Material sei «derart schlecht», berichtete der Verband, dass es von den Lehrern habe neu erstellt werden müssen. Die Folge: eine deutliche Zunahme an krankheitsbedingten Ausfällen, Burnouts, Frühpensionierungen. Auch aus anderen Kantonen klagen viele Pädagogen, wollen sich aber öffentlich nicht äussern.
Das KV, einst Inbegriff der Schweizer Solidität, nun Schweizer Sorgenkind. Die Lehrmittel sind vielleicht das physische Dokument des Versagens, aber die Grundproblematik geht tiefer.
Wie konnte es zu dieser Qualitätserosion kommen? Die Lehrmittel sind vielleicht das physische Dokument des Versagens, aber die Grundproblematik geht tiefer. Das Unterrichtsmaterial wird beispielsweise vom SKV-Verlag hergestellt, dem hauseigenen Verlag des Kaufmännischen Verbandes. Über 6 Millionen Franken erhält er dafür jährlich – und dies, obschon eine Umfrage unter Lehrern zuvor ergeben hat: Das Lehrmittel schneidet miserabel ab, in den Kategorien Qualität, Vollständigkeit und Übersichtlichkeit im Schnitt jeweils mit Noten zwischen 2,5 und 3, wie die «Sonntags-Zeitung» im Oktober geschrieben hat. Und teurer als Produkte von anderen Verlagen ist es auch noch.
Nun gilt in der Schweiz für jede Schule die Lehrmittelfreiheit, aber es erstaunt schon, wenn mehrere dem KV angeschlossenen Standorte sich für Material entscheiden, das bei den Lehrern durchfällt. Dass der Dachverband auf die Rektoren direkt Einfluss nimmt, kann man nicht nachweisen: Aber es ist erwiesen, dass zumindest im Kanton Zürich dieser Entscheid gegen die Empfehlung der Praktiker gefällt wurde. Bei konkurrierenden Verlagen spricht man deshalb von einem «Monopol». Der Kaufmännische Verband sieht das anders. In der «Sonntags-Zeitung» teilte er, angesprochen auf das Verfahren, mit: «Weder der Kaufmännische Verband Schweiz noch die Sektionen haben Einfluss auf die Auswahl der Lehrmittel an den Schulen.»
«Praxisfremd und weltfremd»
Noch ein bisschen klüngeliger wirkt es beim rein digitalen Lehrmittel fürs KV: Der Bund hat die private Firma Ectaveo mit der Reform beauftragt und 1,2 Millionen Franken beigesteuert (ohne Ausschreibung). Mit dem Resultat, dass die Firma Konvink, die zu Ectaveo gehört («irgendwie», wie es auf der Website kryptisch heisst), heute ein Monopol hat. Jeder Schüler, jede Lehrerin, jeder Ausbildner muss – sofern sich die zuständige Berufsschule oder Branche für dieses Lehrmittel entschieden hat – eine Lizenz lösen, um überhaupt auf die Lehrmittel zugreifen zu können. Bei den Lehrern zahlt das der Staat (140 Franken pro Jahr), beim Rest (Schüler, Ausbildner) die privaten Betriebe. Die Beträge unterscheiden sich je nach Ausbildungsweg, hochgerechnet kostet das Paket – mit mehreren Ausbildnern pro Lehrling gerechnet – viele hundert Franken. Ein Millionengeschäft. Auch Konvink hat sich nicht gegen Mitbewerber durchsetzen müssen.
Dass auch diese elektronische Plattform bei vielen Lehrern durchfällt: Wen überrascht das noch? Alain Pichard, der «bekannteste Lehrer der Schweiz» («Sonntags-Zeitung»), sagt, dass dieses Portfolio «praxisfremd und weltfremd» sei. Obschon die Berufe unterschiedlicher nicht sein könnten, bekommen alle einen Einheitsbrei serviert. Pichard fragt sich deshalb: «Was interessiert eine künftige Bankangestellte die Situationsschilderung einer Reisebüromitarbeitenden?» Der KV-Lehrer Michael Pesaro nennt die Lernplattform «chaotisch», jeder Schüler und jeder Lehrer werde damit überfordert.
Dass bei der Beschaffung etwas nicht gut läuft, ist auch der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) und der Schweizerischen Berufsbildungsämter-Konferenz (SBBK) nicht verborgen geblieben. Vor zwei Jahren haben die beiden Koordinationsstellen deshalb ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Dieses liegt der NZZ vor. Der Auftrag war verbunden mit der simplen Frage, «ob die Beschaffung von Lehrmedien für die Zwecke der Berufsbildung dem Vergaberecht untersteht und gegebenenfalls öffentlich auszuschreiben ist». Die Antwort, kurz zusammengefasst: Ja.
Auf Anfrage bestätigt die EDK, dass aufgrund dieses Gutachtens künftig nicht mehr nur die Player der «Arbeitswelt» (Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Branchenvertreter) für die Lehrmittelbeschaffung verantwortlich sein werden. Auch, um diese Monopole aufzubrechen. Denn die Kantone tragen zwar alle Kosten, haben aber kein Mitspracherecht. Dass das wenig Sinn ergibt, ist klar. So schnell ändern wird sich aber nichts, da zuerst eine «Machbarkeitsstudie» erstellt werden muss.
«Scharfe Kritik war richtig»
Konrad Kuoni fühlt sich bestätigt: «Unsere scharfe Kritik an dieser Reform war offensichtlich richtig. Das Niveau ist gesunken, und die bestehende Praxis der Lehrmittelbeschaffung war erst noch rechtlich fragwürdig, wenn nicht in Teilen illegal.»
Dass sich nun aufgrund dieses Gutachtens markant etwas ändere, glaubt er dennoch nicht: «Wenn Sie sehen, dass in allen Gremien immer wieder dieselben Personen verantwortlich sind: Dann zweifle ich daran, dass grosses Interesse an einer transparenten Neuausrichtung besteht. Der Filz ist stark ausgeprägt.»
Tatsächlich finden sich in den Verbänden oft dieselben Player aus der Arbeitswelt. Auch die Kantone und der Bund nehmen meist Einsitz. Fast alle haben die KV-Reform gutgeheissen bis euphorisch unterstützt.
Ein Exempel, das diese Verquickung gut illustriert: Die Leiterin Bildung des KV sitzt auch im Vorstand der beiden Trägerinnen der kaufmännischen Grundbildungen: Bildung Kaufleute Schweiz (Bikas) und Interessengemeinschaft Kaufmännische Grundbildung Schweiz (IGKG). Beide kümmern sich um die «Ausbildungsqualität» und die «Entwicklung». Die Trägerinnen haben etwa die «digitalen Lernmedien», die bei Konvink gekauft werden können, «entwickelt». Es verschmelzen die Kontrollorgane mit der Praxis. Hat da irgendjemand ernsthaftes Interesse an einer Veränderung?
Sebastian Briellmann, «Neue Zürcher Zeitung»