Trotz hoher Teuerung und Personalmangel: Die forschen Forderungen der Gewerkschaften von 4 bis 5 Prozent Lohnanstieg dürften unrealistisch sein Die Lohnrunde 2023 steht unter besonderen Vorzeichen: Preisschub bei Energieimporten, Knappheit von Arbeitskräften, Angst vor einer Winterkrise. Viele Arbeitnehmer werden wohl froh sein müssen, wenn sie einen vollen Teuerungsausgleich erhalten.
Die Lohnrunde 2023 steht unter besonderen Vorzeichen: Preisschub bei Energieimporten, Knappheit von Arbeitskräften, Angst vor einer Winterkrise. Viele Arbeitnehmer werden wohl froh sein müssen, wenn sie einen vollen Teuerungsausgleich erhalten.
«Die Löhne müssen steigen.» Diese Forderung verkünden Gewerkschafter berufsbedingt in jeder Lebenslage. Begründungen findet man immer. In guten Zeiten gibt es viel zu verteilen, in schlechten Zeiten braucht es mehr Kaufkraft zur Stützung der Konjunktur. Mit geschickter Wahl der Vergleichsperiode lässt sich auch meistens ein «Nachholbedarf» konstruieren. Und als Bouquet mögen Verweise auf die «Abzockerei» in den Chefetagen dienen.
Die Lohnrunde 2023 steht unter speziellen Vorzeichen: Der Energiepreisschub hat die Inflation angeheizt, die Unternehmen klagen über einen ungewöhnlich breiten Arbeitskräftemangel, und das Damoklesschwert einer Energierationierung im kommenden Winter verbreitet Ängste. Die zwei erstgenannten Sonderfaktoren können als Zusatzargumente für höhere Löhne dienen: Die relativ hohe Teuerung ruft nach einem hohen Teuerungsausgleich, und wenn die Arbeitskräfte knapp sind, wären Reallohnsteigerungen eine natürliche Folge. So kann es nicht verwundern, dass die Gewerkschaften bei der rhetorischen Lancierung der Lohnrunde muntere Zahlen verbreiten. Der Gewerkschaftsbund hat am Freitag ein Lohnwachstum von durchschnittlich 4 bis 5 Prozent gefordert. Im August hatte die Gewerkschaft Travail Suisse für diverse Branchen die gleiche Grössenordnung anvisiert.
Nach jetzigem Stand ergäbe ein solches Lohnwachstum ein Reallohnplus von 1 bis 2 Prozent. Dies zumindest gemessen an den Prognosen zur durchschnittlichen Jahresteuerung 2022 (etwa 3 Prozent) oder an der jüngsten Inflationsrate; im August waren die Konsumentenpreise 3,5 Prozent höher als im gleichen Monat vor einem Jahr.
Die andere Sicht
Doch die Arbeitgeber sind nicht blöd. Sie finden immer Begründungen, weshalb Lohnanstiege höchstens in homöopathischen Dosen vernünftig sind. In schlechten Zeiten gibt es nichts zu verteilen, in guten Zeiten droht eine unsichere Zukunft, und bei geschickter Wahl der Vergleichsperiode lässt sich fast immer zeigen, dass die Löhne in der Vergangenheit mindestens so stark gestiegen sind wie die Arbeitsproduktivität oder noch stärker. Auch die Arbeitgeber werfen für die kommende Lohnrunde spezielle Zusatzargumente ins Feld: Die hohe Teuerung ist durch Energieimporte getrieben, was die Margen der Firmen unter Druck bringt; die Nationalbank will eine Lohn-Preis-Spirale verhindern und wird die Zinsen weiter erhöhen, was die Wirtschaft bremsen wird; und die Unsicherheiten sind wegen Krieg, Energiefrage und befürchteter Rezession in Europa besonders gross.
Das traditionelle Arbeitgeberargument der Frankenstärke als Bremser der Exportwirtschaft kommt derweil weniger zum Tragen als in früheren Phasen. Der Franken hat sich zwar in den letzten zwölf Monaten vor allem gegenüber dem Euro stark verteuert, doch in der Gesamtsicht ist nicht allzu viel passiert. Diese Gesamtsicht ist gespiegelt im realen Wechselkursindex, der die Entwicklung des Frankens handelsgewichtet gegenüber den Währungen wichtiger Handelspartner zeigt und um die Inflationsdifferenzen zwischen Inland und Ausland korrigiert. Ende Juli dieses Jahres war gemäss dem Index der Franken rund 2 Prozent teurer als ein Jahr zuvor und etwa 2,5 Prozent billiger als zwei Jahre zuvor.
Die nominale Aufwertung des Frankens innert Jahresfrist ist einer der Gründe, weshalb die Teuerung in der Schweiz deutlich tiefer liegt als im Euro-Raum. Die Frankenstärke hat den Anstieg der Importpreise gedämpft – gemessen an der Schweizer Währung. In der Schweiz gehen rund 60 Prozent der Jahresteuerung im August direkt auf das Konto der Einfuhren. Wenn die Importpreise steigen, müssen Inländer die Zusatzkosten zahlen. Danach geht es «nur» noch um den Kampf zur Verteilung dieser Kosten – zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zwischen Unternehmen und ihren Kunden und auf der politischen Bühne zwischen Verbrauchern und Steuerzahlern. Ein voller Teuerungsausgleich ist deshalb keine Selbstverständlichkeit.
Hohe Beschäftigung
Der von Arbeitgebern zurzeit beklagte Mangel an Personal geht quer durch viele Branchen und verschiedene Qualifikationsstufen. Es fehlten nicht mehr nur hochqualifizierte Arbeitskräfte, «sondern auch Personal zur Besetzung von Stellen für Metzger, Velomechaniker oder Servicepersonal», schrieb der Arbeitgeberverband diese Woche in seiner neusten Analyse zur Beschäftigungslage. Der Beschäftigungsindikator der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) erreichte für das dritte Quartal dieses Jahres einen neuen Rekordstand. Der Indikator beruht auf Befragungen von 4500 Firmen im Juli über ihre Rekrutierungpläne und Erwartungen. Auch der KOF-Indikator zur Geschäftslage der Betriebe ist auf einem hohen Stand. Das spricht für Luft bei den Löhnen.
Doch die Vorlaufindikatoren zeigen abwärts. Das KOF-Konjunkturbarometer, das eine Vielzahl von konjunkturrelevanten Variablen umfasst und Hinweise für die Wirtschaftsentwicklung in naher Zukunft gibt, zeigt seit diesem April nach unten, und seit Mai liegt das Barometer unter dem langfristigen Durchschnittswert von 100 Punkten. Dies dürfte in Kombination mit der Angst vor einem Krisenwinter die Lohnentwicklung bremsen. Gemäss den KOF-Befragungen im Juli rechnen die Unternehmen im Durchschnitt der Privatwirtschaft mit einem nominalen Lohnanstieg für 2023 von 2,2 Prozent. Etwa doppelt so hoch liegt der erwartete Anstieg im Gastgewerbe. Im Gesamtdurchschnitt wäre jedoch gemäss diesen Einschätzungen mit einer Reallohneinbusse für das kommende Jahr zu rechnen. Der Arbeitgeberverband hat diese Woche Rückmeldungen aus den Branchen gesammelt und zeichnete am Freitag auf Anfrage folgendes Gesamtbild: «Im allerbesten Fall wird für den Durchschnitt der Gesamtwirtschaft die Teuerung ausgeglichen, aber einen vollen Ausgleich gibt es bei weitem nicht in allen Branchen.»
Nebst den Löhnen als solchen gehört auch die Verteilung zu den üblichen Streitpunkten der Sozialpartner. Die Gewerkschaften wollen naturgemäss möglichst viel in Form allgemeiner Lohnerhöhungen, während die Arbeitgeber Flexibilität mit individuellen Erhöhungen wollen und oft nur einen Teil des Zusatzbudgets für allgemeine Lohnerhöhungen verwenden.
110 000 Franken pro Stelle
In Jahren mit relativ hoher Teuerung sind Reallohneinbussen nichts Ungewöhnliches; mittel- bis längerfristig steigen aber die Löhne typischerweise deutlich stärker als die Preise. So geschah es wenigstens die letzten zwanzig, fünfzig und siebzig Jahre. Gemessen am teuerungsbereinigten Lohnindex der Bundesstatistiker lag die Kaufkraft der Löhne 2021 rund 15 Prozent über dem Niveau des Jahrs 2000. Dies unterschätzt noch den effektiven Anstieg, weil der Lohnindex die Lohnentwicklung bei unveränderter Wirtschaftsstruktur misst. In der Praxis gibt es aber Verschiebungen von weniger produktiven in produktivere Tätigkeiten (Strukturwandel). Dieser Effekt machte seit 2000 im Mittel weitere 0,4 Prozentpunkte Lohnwachstum pro Jahr aus.