Warum «Quiet Quitting» keine Lösung ist In der westlichen Welt hinterfragen viele ihr Verhältnis zur Arbeit. Für Geld und Karriere Lebenszeit zu opfern, scheint immer weniger verlockend. Aber arbeiten wir wirklich nur für Geld und Status? Ein Gespräch mit dem Philosophen Christian Uhle.
In der westlichen Welt hinterfragen viele ihr Verhältnis zur Arbeit. Für Geld und Karriere Lebenszeit zu opfern, scheint immer weniger verlockend. Aber arbeiten wir wirklich nur für Geld und Status? Ein Gespräch mit dem Philosophen Christian Uhle.
Gegenwärtig macht der Begriff «Quiet Quitting» die Runde. Er steht für eine offenbar wachsende Anzahl von Menschen, die bei der Arbeit nur noch Dienst nach Vorschrift leisten. Ist das nicht fatal für die Sinnbilanz?
Ist es denn überhaupt vernünftig, am Arbeitsplatz nach Sinn zu suchen?
Es ist vor allem menschlich. Trotzdem geht die Mainstream-Ökonomik davon aus, dass wir unsere Arbeit prinzipiell als Arbeitsleid erfahren. Dieses Arbeitsleid nehmen wir demnach nur in Kauf, weil wir im Gegenzug konsumieren können; und nicht nur in der Theorie, auch in der Praxis wird häufig suggeriert, dass ohne Lohnanreiz niemand arbeiten und die Arbeit nicht getan würde.
‹In der Welt wirksam sein zu wollen, scheint etwas Angeborenes zu sein.›
Irrt die Arbeitsökonomik?
Nur mit Geld lässt sich nicht erklären, weshalb Feuerwehrleute ab 2000 Euro Nettogehalt in brennende Häuser steigen, während es in anderen Bereichen schwierig ist, für die gleiche Summe jemanden zu finden, der Excel-Tabellen ausfüllt. In der Welt wirksam sein zu wollen, scheint etwas Angeborenes zu sein. Wir können das bei Kleinkindern beobachten: Sie empfinden Freude, eine Ursache zu sein, wie der Entwicklungspsychologe Karl Groos das nennt, und etwas physisch zu bewegen. Nur zu essen, zu schlafen und von den Eltern gestreichelt zu werden, genügt den Kindern nicht, sie wollen Dinge anstossen. Man kann das als Indikator für ein natürliches Bedürfnis nehmen, sich einzubringen, tätig zu sein und darin, wie man mittlerweile sagt, Selbstwirksamkeit zu erfahren und Sinn zu finden.
Haben unsere Vorfahren nicht eher noch versucht, die Arbeit zu meiden?
Die griechische Antike sah harte körperliche Arbeit tatsächlich als hinderlich für die Entfaltung eines tugendhaften Charakters an. Wirklich tugendhaft konnte nur sein, wer die Möglichkeit hatte, die Arbeit an Sklaven zu delegieren, um selbst Zeit für seine Freunde zu haben, Kunst zu betreiben, zu philosophieren und sich in der Polis einzubringen. Das hat sich sehr stark verändert. Heute ist Arbeit zu einem wichtigen Teil unserer Identität avanciert und wird oft als Kern eines anständigen, tugendhaften Lebens wahrgenommen.
Wie kann Arbeit ein positiver Teil der eigenen Identität werden?
Natürlich wäre es ideal, seinen Beruf als Berufung zu empfinden, aber das ist keine Voraussetzung. In ihrem Buch «Glück allein macht keinen Sinn» rät die Psychologin Emily Esfahani Smith, eine «Dienstleistungsmentalität» zu entwickeln und sich zu fragen, welchen gesellschaftlichen Beitrag man leistet. Anstatt Brötchen zu backen, um die eigene Miete zu bezahlen, soll man sich klarmachen: «Mein Job ist es, dich zu ernähren.» Dieser Ansatz steht jedoch in Widerspruch zur ökonomischen These von Adam Smith, wonach Bäcker uns die Brötchen nur geben, um Geld zu verdienen: «Wenn wir bei ihnen einkaufen, verlassen wir uns auf ihre Selbstliebe.»
Was kann ich der Welt bieten? Wo kann ich sinnvoll sein für andere?
Beruht Sinnerfahrung auf Egoverzicht?
Die Gegenüberstellung von Altruismus und Egoismus ist hier nicht hilfreich, gerade sinnvolle Tätigkeiten können ja auch innerlich erfüllend sein. Aber ja, eine gewisse Form von Egoverzicht ist schon im Spiel. Denn Sinn kann nur durch Beziehung entstehen. Nichts hat in sich selbst Sinn: weder ich noch die Gewinnoptimierung noch die Kunst oder Philosophie. Etwas kann immer nur Sinn haben für etwas anderes. Aber was sollten wir zu unserem Sinn machen? Und was ist nur Pseudo-Sinn? Echten Sinn erfahren wir, wenn wir als Menschen und für Menschen tätig sind. Das bringt mich dazu, weniger zu fragen, wo in der Welt ich selbst Sinn finden kann, sondern umgekehrt: Was kann ich der Welt bieten? Wo kann ich sinnvoll sein für andere?
Ein hehres Ziel.
Ja, in der Praxis kann das schwierig sein. Das liegt nicht bloss an uns selbst. Ein Grund sind äussere Faktoren. Wenn ich versuche, den Sinn meiner Tätigkeit darin zu entdecken, dass sie einen Mehrwert für andere schafft, kann diese Perspektive in Widerspruch stehen zu unternehmerischen Strukturen. In diesen kommt häufig zum Ausdruck: Du arbeitest nicht hier, um einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, sondern um Gewinne zu erwirtschaften.
Ist in diesem Fall Quiet Quitting nicht doch die richtige Lösung?
Eher ein Jobwechsel, sofern das möglich ist. Wobei ich auch indirekt einer sinnlosen Tätigkeit einen Sinn abgewinnen kann, wenn sie mir etwa ermöglicht, meine Familie zu ernähren; der Sinn kommt dann von einem Endzweck her, dem ich meine Arbeit unterordne, er kann mir helfen, unter Verzicht ein Ziel zu erreichen.
Welchen Sinn haben die «Bullshit-Jobs», wie sie der Ökonom David Graeber –beschrieben hat?
Laut ökonomischer Theorie dürfte es keine sinnlosen Jobs geben, jedenfalls nicht in profitorientierten Unternehmen. Denn erstens müssen alle Produkte einen Mehrwert für die Konsumentinnen haben. Und zweitens würden überflüssige Jobs die Kosten unnötig nach oben treiben. Tatsächlich wächst aber nicht nur in der öffentlichen Verwaltung, sondern auch in der Privatwirtschaft ein Überbau aus Qualitätsmanagement, Meetings, E-Mails und Schulungen, die der Effizienz dienen sollen, dabei aber auch überflüssige Arbeitsbereiche schaffen, die überflüssige Stellen notwendig machen.
Versagt hier der Markt?
Ja. Darüber wird aber ungern gesprochen, weil die Beschäftigten nicht als kündbar dastehen wollen und Führungskräfte erfolgreicher und wichtiger wirken, wenn sie viele Mitarbeitende haben. Alle Parteien von links bis rechts schreiben es sich zudem auf die Fahne, Arbeitsplätze zu sichern. Die stille Übereinkunft scheint zu lauten: Besser Arbeit ohne Sinn als keine Arbeit.
Die Effizienzsteigerer produzieren vor allem heisse Luft?
Gemäss einer Studie von Adobe-Work-Front wird in deutschen Büros nur etwa 40 Prozent der Arbeitszeit für Kernaufgaben aufgewendet, der Rest ist Krams. Selbst an Spitälern regen sich Mitarbeitende darüber auf, dass sie immer mehr Formulare ausfüllen müssen und immer weniger Zeit für die Patientinnen haben. Private Unternehmen schauen beim Sparen immer zuerst auf den Niedriglohnbereich. Die Frage ist, ob sich ausgerechnet im etwas besser bezahlten Office-Bereich ein aufgeblähter Dienstleistungssektor entwickelt hat – normalerweise ein Indikator für sogenannte Entwicklungsländer, wo es vorkommt, dass sieben Personen ein Café reinigen oder Angestellte im Supermarkt nur dazu da sind, die Sachen in eine Tüte zu packen.
Immerhin sind viele Bullshit-Jobs recht gut bezahlt.
Es ist aber auch eine uralte Beobachtung, dass viele Menschen bereit sind, für einen sinnvolleren Job etwas weniger Gehalt zu erhalten. Manche arbeiten nach dem Studium in einer NGO statt in der freien Wirtschaft, weil sie sich von einem sinnhaften Unternehmensziel auch einen Sinnkompass für ihre eigene Tätigkeit erhoffen. Allerdings garantiert mir auch eine NGO mit glasklarem Purpose keine Sinnerfahrung, wenn ich mich nicht selbstwirksam einbringen kann oder keine Wertschätzung erfahre. Damit ein Job als sinnhaft erfahren wird, müssen mehrere Aspekte zusammenkommen. Es ist ein Massenphänomen: 35 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland sehen in ihrer Arbeit keinen Sinn.
Vielleicht treiben wir es zu weit mit der Sinnsuche? Wollen in der Arbeit unser wahres Selbst verwirklichen?
Es ist eine liberalistisch geprägte Auffassung: Jeder findet seinen eigenen Sinn, ist seines eigenen Glückes Schmid. Diese Privatisierung der Sinnsuche ist eng verwandt mit dem Narrativ: Ich muss in mir selbst suchen, um in mir meinen Sinn zu finden. Da spielen auch uralte Denkbilder mit hinein wie etwa Aristoteles’ Vorstellung, dass der Lebenszweck, das Telos, in jedem Lebewesen schon angelegt sei wie der Schmetterling in der Raupe.
Gab es in der Antike schon das Ideal der Selbstverwirklichung?
Nicht im heutigen individualistischen Sinn. Aristoteles ging es nicht um die Frage nach der individuellen Natur jedes Einzelnen, sondern nach dem wahren Ich aller Menschen. Beide Ansätze führen aber in Sackgassen. In uns drin ist kein Sinn versteckt. Er ist aber auch nicht da draussen verborgen, im Wald oder unter einer Kaffeetasse, sondern er entsteht dazwischen, wie die Freundschaft, zwischen mir und der Welt.
Der Sinn, das sind die andern?
Man sieht, dass das Sinnempfinden höher ist in Jobs, die unmittelbar anderen Menschen dienen. Erzieher, Ärztinnen oder Sozialarbeiter erfahren ganz direkt, wozu ihre Arbeit gut ist. Ein Experiment hat diesen Effekt auch bei Callcenter-Mitarbeitern gezeigt, die Geld für Studienstipendien sammelten. Nach einer persönlichen Begegnung mit Empfängern der Stipendien steigerten sie nicht nur die Zahl ihrer Anrufe erheblich, sie waren am Telefon auch viel überzeugender und sammelten bis zu fünfmal mehr Geld – weil ihre sonst so abstrakte Tätigkeit für sie nun einen sichtbaren Sinn bekommen hatte, den sie auch glaubhaft vermitteln konnten.
Derzeit ist unter dem Label «New Work» eine Transformation der Arbeitswelt im Gang: weg von starren Jobprofilen, hin zu flexiblen Rollen, flachen Hierarchien und gleitenden Arbeitszeiten. Dürfen wir uns davon mehr Sinn versprechen?
Auf jeden Fall, diese Individualisierung im Arbeitsbereich hat ein grosses Sinnpotenzial. Sie hilft dabei, sich nicht als blosses Zahnrad wahrzunehmen, das man austauschen kann. Viele dieser Jobs werden beworben mit dem Versprechen, sich in der eigenen Einzigartigkeit einbringen zu könne. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt dieses Paradigma als «Logik des Besonderen»: Es stellt die marxistische Systemkritik, der Kapitalismus entfremde, geradezu auf den Kopf. Das Ideal nicht-entfremdeter Arbeit ist von der Nische in den Mainstream gewandert. Nicht etwa Hippies, sondern ganz normale Unternehmen werben damit um Mitarbeiterinnen.
Das klingt gut. Aber die alten sozialen Rollen gaben doch auch Sinn und Halt.
Weniger soziale Skripte bedeuten mehr Freiheit, dass man Chefs duzt und Dresscodes zerfallen, hat etwas Positives. Aber es gibt weniger, woran man sich festhalten kann, die Spielregeln unserer Begegnungen sind weniger festgeschrieben. Das kann zur Belastung werden für Menschen, denen nicht die Kompetenzen vermittelt wurden, durch eine zunehmend komplexe, individualisierte Arbeitswelt zu navigieren.
Sollen die Versprechungen von New Work nicht vor allem die Opferbereitschaft des Personals erhöhen?
Man kann unser angeborenes Sinnbedürfnis tatsächlich dazu missbrauchen, um Menschen zur totalen Selbstaufopferung zu bewegen – sogar dazu, für irgendeine Sinnidee in den Krieg zu ziehen. Nicht jeder Sinn ist ein guter Sinn, viele Sinnerzählungen sind trügerisch. In abgeschwächter Form kann auch das Versprechen eines Arbeitssinns genutzt werden, um bei den Mitarbeitenden eine höhere Leistungsbereitschaft abzurufen oder auch mehr zu verkaufen – ähnlich, wie sich mit Bioprodukten eine viel höhere Zahlungsbereitschaft bei Konsumenten erzielen lässt.
Dabei wäre weniger mehr?
Es wäre zu stark, pauschal zu sagen, wir müssten weniger produzieren, um ein sinnvolles Leben zu haben. Aber dass wir immer neue Bedürfnisse schaffen und neue Produkte entwickeln, um sie zu befriedigen, ist eine Grundlogik, die zu Sinnkrisen beitragen kann. Sobald es keinen realen Mehrwert mehr gibt, entsteht das Gefühl von Bullshit – etwa, wenn ich einer Kundin ein neues Produkt mit einer Flatrate andrehen muss, obwohl ich weiss, dass sie es nicht braucht. Solche Situationen entstehen, weil Gewinne maximiert werden. Da bleibt wenig Raum für einen echten Sinn. Gewinne machen und Gewinnmaximierung sind zwei verschiedene Dinge, Gewinnmaximierung steht in einem Zielkonflikt mit dem Sinnanspruch.
Wurde zu stark auf die Wachstumsprediger gehört? Ist bei all dem Wachstum der Sinn unter die Räder gekommen?
Das Wachstumsparadigma hat sich verselbständigt. Für den Ökonomen John Maynard Keynes stellte der Kapitalismus in seiner auf Wachstum, Ungleichheit und Ungerechtigkeit basierenden Form nur einen notwendigen ersten Schritt dar, um in hundert Jahren «das ökonomische Problem» zu lösen: die ausreichende Versorgung aller Menschen mit Gütern. Danach, so seine Vorstellung um 1930, würden die Menschen nur noch drei Stunden am Tag arbeiten. Eine ähnliche Prognose hatte achtzig Jahre davor schon der Philosoph John Stuart Mill gemacht. In einem auf den industriellen Fortschritt folgenden «stationären Zustand» werde der gesellschaftliche Fortschritt nicht auf wirtschaftlicher, sondern auf geistiger, moralischer und sozialer Ebene weiterlaufen.
Noch ist der Wohlstand für alle nicht durchgesetzt.
Nein, aber es zeigt sich eben auch, dass das Wirtschaftswachstum seinen Preis hat, und zwar nicht nur ökologisch: Je wohlhabender ein Land ist, desto höher ist zwar die Lebenszufriedenheit, aber desto verbreiteter sind Sinnkrisen. Die Grundausrichtung des «Schneller, höher, weiter» legt den Blick tendenziell in die Zukunft. Sinn aber liegt in der Gegenwart.
‹Es werden oft jene zu Führungspersonen erklärt, die sich durchsetzen, nicht unbedingt die sozial Kompetenten, die wertschätzen können.›
Wie wichtig im Sinnzusammenhang ist eigentlich der Chef?
Sehr wichtig. Gemäss einer Porsche-Consulting-Studie hat 2019 in Deutschland jeder dritte Arbeitnehmer über eine Kündigung nachgedacht, weil er mit dem Chef unzufrieden war. Es werden oft jene zu Führungspersonen erklärt, die sich durchsetzen, nicht unbedingt die sozial Kompetenten, die wertschätzen können. Das macht den eigenen Sinn weniger erfahrbar.
Reicht es denn nicht, sich selbst zwischendurch ein bisschen zu loben?
Menschen brauchen die Wertschätzung durch andere. Der häufige Satz «Du musst dich selbst lieben, damit du andere lieben kannst» ist unvollständig, weil er nur eine Seite darstellt. Die andere ist: Wenn wir niemals geliebt werden, können wir uns auch nicht selbst lieben. Das macht uns verletzlich. Es legt unglaublich viel Verantwortung auf den einzelnen Menschen, wenn wir sagen: «Du musst daran arbeiten, dich selbst anzunehmen.» Ja, okay, muss ich, aber manchmal ist das auch nicht leicht, weil es von aussen torpediert wird.
Das heisst: Man soll seine Sinnkrise ernst nehmen?
Auf jeden Fall. Es lohnt schon, sich mit Sinnfragen zu beschäftigen, um zu erkennen, ob eine Sinnkrise nur eine Sinnerkennungskrise ist. Oder man macht seine Sinnfragen zum Ausgangspunkt für eine Veränderung, weil man versteht, dass da tatsächlich etwas schiefläuft. Es gibt dazu ein schönes Zitat von Günther Anders: Manchmal ist eine Sinnkrise «nicht ein pathologisches (. . .) Symptom», sondern «ein Zeichen von unbeschädigter Wahrheitsbereitschaft, um nicht geradezu zu sagen: ein Symptom von Gesundheit.» Bevor man dann sein Mindset ändert, sucht man besser nach einem neuen Umfeld.