Weniger Arbeit und Konkurrenz, mehr Freizeit und Wohlgefühl: Der Schweiz droht das Ende der Leistungsgesellschaft Schweizerinnen und Schweizer waren bekannt für ihr zwinglianisches Arbeitsethos. Die Zeichen mehren sich, dass diese Tugend verlorengeht.
Schweizerinnen und Schweizer waren bekannt für ihr zwinglianisches Arbeitsethos. Die Zeichen mehren sich, dass diese Tugend verlorengeht.
Der Gedanke, dass sich der Wurm des Müssiggangs ins Gebälk der Schweizer Gesellschaft frisst, kam mir erstmals während Corona. Da war es anfangs Pflicht, von zu Hause aus zu arbeiten. Und ich staunte, wie viel Zeit die Menschen hatten, Dinge zu tun, die ich bis anhin nicht mit Erwerbsarbeit in Zusammenhang gebracht hatte. Zu Hunderten joggten sie am helllichten Tag über den Berg, gingen stundenlang einkaufen, trafen sich draussen zu Schwatz und Kaffee. Und nach Corona sahen viele Menschen aus, als hätten sie ewige Ferien gehabt. Braun gebrannt standen sie vor einem, ein Lachen im Gesicht, Körper und Geist gestählt.
Nur hinter vorgehaltener Hand hörte man den Satz: «Corona war die beste Zeit meines Lebens.» Laut sagte das aber niemand. Der hiesige Mensch ist ja Weltmeister darin, die eigene Arbeitsbelastung in den Himmel zu loben – was sich oft reziprok zur Realität verhält. Fakt bleibt: Viele haben in diesen Monaten den Müssiggang für sich entdeckt. Und nicht wenige haben den Weg von der beschaulichen Heimarbeit zurück ins Büro geistig nicht mehr geschafft.
Man verstehe mich nicht falsch: Natürlich gibt es immer noch viele geschaffige Menschen in diesem Land. Aber sie sind zunehmend in den Tief- und Höchstlohnsegmenten anzutreffen. Dazwischen wächst die Zahl der arbeits- und leistungsscheuen Schweizerinnen und Schweizer. Das lässt sich belegen: Rund 40 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer gehen vor dem ordentlichen Pensionsalter in Rente, ein bedeutender Teil reduziert ab 55 zudem sukzessive die Anstellungsquote – und das obwohl die Lebenserwartung gestiegen ist und Vollbeschäftigung herrscht. Viele arbeiten ohnehin nur Teilzeit, auch dann noch, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind. Allgemein hat in den vergangenen zehn Jahren die durchschnittliche Arbeitszeit abgenommen. Im Vergleich zu 2010 arbeitet heute ein Schweizer 14 Arbeitstage weniger pro Jahr, das sind fast drei Wochen. Zudem ist das neudeutsche Sabbatical zum Standard geworden. Und es gibt nicht wenige, die ihre Gehälter so berechnen, dass sie genau so viel verdienen, um von möglichst vielen staatlichen Subventionen für die Tagesstätte oder die Krankenkassenprämien zu profitieren – und von möglichst viel Freizeit. Diese Greif-ab-was-du-bekommen-kannst-Mentalität ist doch ziemlich neu für die Schweiz. Und ich schreibe hier nichts von der 13. AHV-Rente.
Zu viele können sich das süsse Wenigtun leisten
All das ist ein Bruch mit dem Selbstbild des Fleisses, das die Einheimischen gerne vor sich hertragen wie eine Monstranz. Und es ist fürs Gemeinwohl und die Wirtschaftsleistung nicht förderlich. Diese Gesellschaft fusst auf dem Leistungsprinzip. Auf was denn sonst? Alles andere wäre ein Rückschritt ins 19. Jahrhundert, wo man sich, mühselig zwar, vom Prinzip der vererbten Privilegien verabschieden konnte.
Das neue Credo lautet: Es soll einem selbst so gut gehen wie möglich, alles easy, Gym, Wellness, Yoga. Die harten Tieflohnjobs, die sich keine Schweizerin und kein Schweizer mehr antun will, werden von Einwandern erledigt. Und oben chrampfen die Expats. In der Mitte haben sich zu viele von uns bequem eingerichtet. Für caritative Aufgaben oder öffentliche Ämter wie etwa einen Gemeinderat wird es immer schwieriger, geeignete Schweizer zu finden. «Ich will mich doch nicht für wenig Geld zum Tubel machen», heisst es dann.
Leider können sich viele das süsse Wenigtun leisten. Noch nie wurde so viel vererbt wie heute. Derzeit sind es über 95 Milliarden Franken pro Jahr, 40 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer profitieren von der Plackerei ihrer Vorfahren, Dank Vorbezügen auch schon in jüngerem Alter. Jeder zweite Vermögensfranken in diesem Land ist geerbt. Natürlich werden vor allem diejenigen reich beschenkt, die schon reich sind. Aber für die breite Masse fällt auch noch so viel ab, dass man es sich gutgehen lassen kann.
Abschaffung der Noten: Bloss keine Konkurrenz
Dazu kommt eine gesellschaftliche Stimmung einer totalitären Achtsamkeit, die den Einzelnen unter allen Umständen vor der bösen Konkurrenz der Mitmenschen behüten will. Ich beobachtete dies erstmals vor vielen Jahren bei unseren Kindern. Es geschah in der Skischule, die nach einer Woche jeweils mit einem Skirennen abgeschlossen wird. Unsere Kinder wurden nicht Erste, aber sie wurden auch nicht Letzte. Und so standen sie bei der Rangverkündigung in einer Reihe – und jedes Kind bekam eine Medaille. Und zwar dieselbe Medaille. Als unsere Kinder gewahr wurden, dass auch der Letzte dieselbe Medaille wie sie bekam, gab es Tränen. Tränen der Wut angesichts dieser Einebnung von Differenzen. Gold, Silber, Bronze, das war gestern.
Und so ging es weiter. Die Schule, sie treibt dem Einzelnen den Willen zur Leistung zunehmend aus. Jetzt soll auch noch ein Gespenst, das seit Jahrzehnten sein Unwesen treibt, in Fleisch und Blut verwandelt werden: die Abschaffung der Noten. Die Zensuren sollen durch verschiedene Farben und, im allgemeinen Individualisierungswahn, vor allem durch Berichte ersetzt werden. Die Zusatzarbeit für die Lehrerinnen und Lehrer wird immens sein. Und was daran «gerechter» sein soll, eine Leerformel, die von reformtrunkenen Bildungspolitikern geradezu pandemisch verwendet wird, weiss der Geier. Es ist wohl eher das Gegenteil der Fall, denn in Worte lässt sich vieles verpacken. Die Tatsache, dass sich die ohnehin schon überbehüteten Schülerinnen und Schüler gerne aneinander messen, ignoriert man geflissentlich.
Die Abschaffung der Noten ist aber nur eine weitere Pointe in der Geschichte des Zerfalls der Leistungsgesellschaft. Die Notendurchschnitte sind exponentiell gewachsen. Dies hat vor allem mit zwei Dingen zu tun. Die Schulen, die pro Schüler bezahlt werden, haben kein dringliches Interesse, ihre Schützlinge wieder loszuwerden. Und die Lehrerinnen und Lehrer gehen einem möglichen Konflikt mit Schüler- und Elternschaft bequem aus dem Weg. Im Kanton Zürich, der eine Aufnahmeprüfung ins Gymnasium kennt, ist das System besonders krank. Denn wer ohne Vornoten von 5,5 oder mehr an die Prüfung will, dessen Chancen auf Erfolg sind gering. Tausende haben aber solch brillante Vornoten. Tausende Überflieger pro Jahr? Wer will, kann das meinen Grossmüttern erzählen. Die sind aber tot. Und wer trotzdem knapp ist, der besorgt sich mit ärztlicher Hilfe einen Nachteilsausgleich, der ihm Vorteile in den Prüfungen verschafft. Es gibt Schulen, da hat schon fast jeder Fünfte einen solchen «NTA».
So in Watte gepackt, kommen die Schülerinnen und Schüler – gerne nach einem Zwischenjahr, der Nachwuchs soll ja auch einmal etwas sehen von der Welt – schliesslich an die Hochschulen. Aber keine Angst, dort setzt sich der Trend zur hohen Note fort. Ein Germanistikprofessor hat mir kürzlich Folgendes erzählt: Wenn er eine Seminararbeit mit der Note 5 bewerte, kämen gewisse Studenten direkt mit dem Anwalt, um die Bewertung anzufechten. Oder, das sei das Mindeste, sie brechen in Tränen aus. Benote er eine Arbeit unter einer 5,5, gäbe es jedenfalls immer Schwierigkeiten. Und er ist wahrlich nicht der Erste, der mir das erzählt. Nur für die Akten: Eine 5 bedeutet «gut». Aber gut ist offenbar nicht mehr gut genug.
Und endlich, endlich droht die Arbeitswelt. Dort aber müssen die neuen Arbeitnehmer, die infolge unserer europaweit am längsten dauernden Ausbildungszeit nicht mehr die Jüngsten sind, erfahren, dass gerade in Grossunternehmen und Staatsbetrieben Leistung weniger zählt als Hautfarbe, Geschlecht oder andere Kriterien, die sich der eigenen Beeinflussung entziehen. Also kann man das mit der Leistung doch auch ganz sein lassen. Das Gehalt stimmt ja in der Regel.
Die neue Lust am Konsum
All dieses Wohlfühlgedöns spielt sich mitten in einer brisanten Weltlage ab, einer Lage, wie wir Lebenden, die wir in einer extraordinären Friedenszeit aufgewachsen sind, sie nie gekannt haben. Wollen die Schweizerinnen und Schweizer das Leben nochmals so richtig geniessen, bevor sich die Welt, wie sie sie lieben gelernt haben, ganz verabschiedet?
Jedenfalls reagieren die Schweizerinnen und Schweizer auf das prekäre Weltgeschehen nicht mehr mit bewährten Tugenden wie Vorsicht und Sparsamkeit – sondern mit einer ziemlich unschweizerischen Lust am Konsum. Die Sparquote, also das Geld, das man nach den Einzahlungen für die erste, zweite und die Säule 3a, noch übrighat, nimmt seit 2020 wieder kontinuierlich ab. Es wird gereist, als gäbe es kein Morgen. Und keine Klimakrise. Die Schweizerinnen und Schweizer fliegen öfter als vor Corona, das Wort «Flugscham» kann man gar nicht mehr buchstabieren. Die Businessklasse ist heute oft schon vor der Economy ausgebucht – obwohl die Flugpreise rasant gestiegen sind. Die Swiss, die nicht mehr mit einer Schweizer Fluggesellschaft verwechselt werden sollte, erzielte 2023 das beste Ergebnis ihrer Geschichte.
Auch das Prinzip ihrer Eltern, dass man erst etwas haben muss, um es auszugeben, scheinen die heutigen Schweizerinnen und Schweizer in den Wind zu schlagen. Die Lust am Leasing, dem Kauf auf Pump, etwa wächst stetig. In der Deutschschweiz finanzieren 49 Prozent ihr nicht selten ziemlich protziges Auto mit fremden Mitteln. In der Romandie sind es 66 Prozent und im Tessin sogar 79 Prozent. Vielleicht gönnen sich die Schweizerinnen und Schweizer auch wieder mehr, weil sie sich vom Traum der eigenen vier Wände aus Kostengründen verabschieden mussten.
Das Ganze hat etwas von einem Tanz auf dem Vulkan. Oder es ist Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit, mit der vielen neuen Freizeit etwas Sinnvolles anzufangen. Beides wäre Grund zur Beunruhigung.