Wer ständig zu wenig schläft, kann im Beruf weniger leisten. Was Betroffene tun können und wieso Schlaf so wichtig ist Chronischer Schlafmangel ist ein verbreitetes Phänomen. Manche Menschen glauben zwar, dass sie auch mit wenig Nachtruhe gut zurechtkommen. Aber die Leistungsfähigkeit im Beruf nimmt selbst dann ab, wenn man sich an den Schlafmangel gewöhnt.
Chronischer Schlafmangel ist ein verbreitetes Phänomen. Manche Menschen glauben zwar, dass sie auch mit wenig Nachtruhe gut zurechtkommen. Aber die Leistungsfähigkeit im Beruf nimmt selbst dann ab, wenn man sich an den Schlafmangel gewöhnt.
Svetlana Sommer litt monatelang unter Schlafmangel. Abends konnte sie nicht einschlafen, oder sie wachte mitten in der Nacht auf und fand keine Ruhe mehr. Die Frau, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, war gestresst durch die Arbeit und eine aufreibende Beziehung. Der Schlafmangel mehrte ihren Stress zusätzlich.
Sie erzählt: «Als Schulleiterin sehe ich meine Rolle darin, ein Fels in der Brandung zu sein und mein Team durch herausfordernde Situationen zu begleiten. Aber die Probleme verursachten noch mehr Stress, ich verlor den Blick fürs Wesentliche und vergass mitten im Reden, was ich schon gesagt hatte.» Sie wurde unsicher und traute ihren Entscheidungen nicht mehr. «Ich merkte, dass ich die Sachverhalte nicht mehr richtig durchdenken konnte und mich eher auf mein Bauchgefühl verliess.»
Die Risiken des Schlafmangels
Was Sommer schildert, sind typische Folgen von Schlafmangel. Studien zeigen, dass kognitive Leistungen wie das Arbeitsgedächtnis, die Aufmerksamkeit und die Reaktionsgeschwindigkeit darunter leiden. Wer zu wenig schläft, ist zudem schneller gereizt und reagiert impulsiver als in ausgeschlafenem Zustand. Schlechte Nachrichten wirken bedrohlicher, und kurzfristige Änderungen im Arbeitsablauf sorgen eher für Unmut.
Zudem sind übermüdete Menschen risikofreudiger, und sie entscheiden impulsiver, also eher nach dem Bauchgefühl. Die Neuropsychologin Angelina Maric von der Universität Zürich erforscht das Phänomen. Sie sagt: «Die Studien zeigen, dass Probanden im Entscheidungsprozess weniger bereit sind, einen Aufwand zu betreiben, um Informationen zu sammeln und zu ordnen. Man trifft die einfachere Entscheidung, weil das Denken schwerer fällt.» Doch wer zum Beispiel eine Firma leitet oder Patienten behandelt, sollte besser alle Informationen berücksichtigen.
Wie Schlaf den Menschen effizienter macht
Aber warum braucht unser Gehirn überhaupt Schlaf, um zu funktionieren? Eine gängige Erklärung dafür lautet, dass sich die neuronalen Netzwerke ständig verändern. Im wachen Gehirn bauen die Nervenzellen ihre Kontaktstellen untereinander fortlaufend aus. Dadurch steigt ihre Erregbarkeit, es braucht also weniger Anregung, damit ein Signal weitergeleitet wird.
«Das kann man als positiv bezeichnen», sagt Maric. «Aber irgendwann werden so viele Signale gesendet, dass die wichtigen im Rauschen untergehen. Das Gehirn ist erschöpft.» Man kann sich das vorstellen wie einen Kommentarsturm in den sozialen Netzwerken, bei dem alle ihre Meinungen abgeben und die relevanten Nachrichten untergehen. Im Schlaf werden alle Kontaktstellen im gleichen Tempo abgebaut, so dass nur die grossen, wichtigen erhalten bleiben. Am nächsten Tag steht ein effizientes Netzwerk zur Verfügung. Schläft man zu wenig, muss man das Rauschen im Kopf ertragen.
Doch was heisst das überhaupt – zu wenig Schlaf? Wie lange man bestenfalls schlafen sollte, dafür gibt es keine allgemeingültige Regel. Die optimale Schlafdauer variiert von Mensch zu Mensch. Bei den meisten liegt sie zwischen sieben und acht Stunden pro Nacht.
Nur sehr wenige Menschen können über längere Zeit mit weniger als ihrer persönlichen optimalen Schlafdauer leistungsfähig bleiben. Das Bewusstsein dafür ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Aber wie empfindlich man auf Schlafmangel reagiert, ist individuell verschieden. «Eine mögliche Erklärung dafür lautet: Je besser das neuronale Netzwerk im Gehirn funktioniert, desto eher kann es etwas abfedern», sagt Maric.
Eine Person mit grossen kognitiven Ressourcen oder mit viel Erfahrung kann die Einbusse demnach eher kompensieren. «Aber es spielen auch noch andere Dinge rein, unter anderem die Zeit. Man kann einen Schlafmangel nicht wochenlang durch kognitiven Mehraufwand kompensieren», sagt die Wissenschafterin.
Viele bemerken ihren Schlafmangel nicht
Wie stark chronischer Schlafmangel die Tagesleistung beeinträchtigt, ist vielen Menschen nicht bewusst. Manche nehmen ihre Müdigkeit gar nicht mehr wahr. Das erzählt Simon Schreiner, Leiter der Schlafsprechstunde am Universitätsspital Zürich: «Wir sehen in der Sprechstunde immer wieder Leute mit Einschlafattacken, die völlig uneinsichtig sind.»
Die Betroffenen werden überwiesen, weil sie zum Beispiel am Steuer in einen Sekundenschlaf fielen und einen Unfall verursacht haben. Oft sind sie tagsüber sehr aktiv, haben Verantwortung bei der Arbeit, familiäre Verpflichtungen und nehmen sich schlicht zu wenig Zeit zum Schlafen. Sie sind abends so müde, dass sie sofort einschlafen und tief durchschlafen. Sie merken nicht, dass der Schlaf zu wenig ist. Doch der Mangel an Erholung fordert seinen Tribut.
Tatsächlich hat chronischer Schlafmangel ähnliche Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit wie kompletter Schlafentzug. Das zeigte der Schlafforscher Hans van Dongen von der Washington State University. Er verglich junge Erwachsene, die zwei Wochen lang weniger als sechs Stunden pro Nacht schlafen durften, mit Probanden, die mehrere Tage und Nächte wach bleiben mussten. Die Probanden mit chronischem Schlafmangel waren viel weniger müde als jene, die gar nicht schliefen. Aber in Tests, die das Arbeitsgedächtnis, die Aufmerksamkeit und die Denkschnelligkeit forderten, schlossen sie ähnlich schlecht ab wie jene, die zwei Tage und Nächte nicht geschlafen hatten.
Die Neuropsychologin Maric sagt: «Das Heimtückische an chronischem Schlafmangel ist, dass die Betroffenen sich weniger müde fühlen und nicht merken, dass ihre Leistungen eingeschränkt sind. In unserer Studie war den Probanden auch nicht bewusst, dass sie unter chronischem Schlafmangel risikofreudiger handelten.»
Ein Test am Computer während einer wissenschaftlichen Studie ist keine Tätigkeit, die eine Alltagsrealität darstellt mit Verantwortung verbunden ist. Inwiefern die Ergebnisse solcher Studien übertragbar sind, ist schwer zu beantworten. Die Forschung kann kleine Unterschiede offenbaren, die im Alltag kaum eine Rolle spielen oder die von erfahrenen Berufstätigen tatsächlich kompensiert werden. Das sieht auch Maric so. Aber sie gibt zu bedenken: «Natürlich kann man sich zusammenreissen, wenn es drauf ankommt, in einer Prüfung oder bei einer heiklen Operation, aber wenn die Situation lange dauert, kann man nicht die gleiche Leistung aufrechterhalten.»
Besonders bei langen und monotonen Aufgaben besteht die Gefahr eines Leistungsabfalls. Denn dabei ist es schwieriger, die nötige Aufmerksamkeit durchgehend aufzubringen. «Beim Autofahren wird das oft unterschätzt, und das ist durchaus eine reale Gefahr», sagt Maric. Das zeigt auch die Unfallstatistik. Beispielsweise ist das Risiko für einen Autounfall nach einer Nachtschicht laut einer Studie dreimal so hoch wie nach einer Tagesschicht.
In einer Studie mit Assistenzärzten gab ein Drittel der Befragten zu, in der vergangenen Woche einen medizinischen Fehler gemacht zu haben. Sie hatten deutlich mehr gearbeitet und weniger geschlafen als jene, denen kein Fehler unterlaufen war.
Um das Ausmass der kognitiven Einschränkung zu veranschaulichen, wird oft ein Vergleich vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat zitiert. Gemäss diesem beeinträchtigen 17 Stunden ohne Schlaf das Reaktionsvermögen wie 0,5 Promille Alkohol im Blut, 22 Stunden wirkten bereits wie 1 Promille. Deshalb warnt der Verein regelmässig vor Fahrten nach langen Arbeitstagen.
Immerhin: «Der Stellenwert von Schlaf ist in den letzten Jahren gestiegen. Früher hat sich manch einer damit gebrüstet, wie wenig Schlaf er braucht. Das hört man heute seltener», sagt der Schlafmediziner Schreiner. Dennoch bleibt Schlafmangel ein verbreitetes Phänomen. «Laut Studien schläft in gewissen Altersgruppen ein Viertel bis ein Drittel der Personen zu wenig», sagt er. Daran etwas zu ändern, ist oft nicht einfach.
Das Schlafverhalten ändern
Nimmt sich die betroffene Person schlicht zu wenig Zeit dafür, dann lautet die Therapie: mehr Zeit zum Schlafen einplanen. Aber was einfach klingt, ist manchmal schwer umzusetzen. «Bei einigen fehlt die Einsicht. Andere haben so viele Verpflichtungen, dass sie nicht wissen, wo sie die Zeit hernehmen sollen», sagt Schreiner.
Anders sieht die Therapie bei einer Insomnie aus. Das ist der medizinische Fachausdruck für Ein- und Durchschlafstörungen. Mögliche Auslöser sind Faktoren wie Stress, Sorgen und körperliche Beschwerden. Je nach Ursache wird die Behandlung angepasst. Wenn körperliche Beschwerden ausgeschlossen werden können, gibt es zunächst einfache Tipps zur Schlafhygiene – zum Beispiel regelmässige Schlafzeiten, keine Stimulanzien und aufregenden Tätigkeiten am Abend.
Falls das nichts nützt, empfehlen Schlafmediziner eine kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie. «Dabei werden unter anderem psychische Probleme besprochen, Entspannungsübungen vermittelt, zudem lernt man viel über den Schlafprozess. Auch eine Schlafrestriktion kann sehr hilfreich sein», sagt Schreiner. Dabei wird die Zeit im Bett verkürzt. Der Betroffene soll dadurch so müde werden, dass er wieder besser schläft.
Aber das ist nur ein erster Schritt hin zum optimalen Schlaf. Erst wenn die Person es mit der Zeit schafft, lange genug zu schlafen, wird sie ihr volles Potenzial ausschöpfen können.
Lena Stallmach, «Neue Zürcher Zeitung»
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