Wohnungsknappheit und Staus: Genf wird für Firmen immer unattraktiver Genf ist die internationalste aller Schweizer Städte. Das lockt viele Arbeitskräfte aus dem In- und Ausland an. Vor allem Startups ziehen aber lieber nach Zug, Zürich oder ins Waadtland.
Genf ist die internationalste aller Schweizer Städte. Das lockt viele Arbeitskräfte aus dem In- und Ausland an. Vor allem Startups ziehen aber lieber nach Zug, Zürich oder ins Waadtland.
Genf bildet sich viel ein auf seine Internationalität. Es gebe kaum eine andere Stadt dieser Grösse, die international derart bekannt sei, sagt Gilbert Ghostine, der Präsident der Fondation pour l’attractivité du canton de Genève (Flag). Die Bevölkerungszahl Genfs beschränkt sich auf knapp 205 000 Personen. Der gesamte Kanton umfasst 518 000 Einwohner, von denen rund 41 Prozent Ausländer sind.
Lobbyisten sind besorgt
Gemäss der Aufstellung von «Genève internationale» haben in Genf 38 internationale Organisationen ihren Sitz. Dazu gesellen sich 179 feste Repräsentanzen von Staaten, über 430 Nichtregierungsorganisationen und über 1300 ausländische Firmen. Zählt man Schweizer Unternehmen, die in mindestens einem anderen Land eine Niederlassung unterhalten, dazu, umfasst die Statistik sogar über 2200 multinationale Gesellschaften. Insgesamt beschäftigen diese Firmen 115 000 Mitarbeiter im Kanton Genf.
Doch die Stiftung Flag, die sich für attraktive Rahmenbedingungen einsetzt, ist besorgt. Sie befürchtet, dass Genf schleichend an Anziehungskraft verlieren könnte.
Zu hohe Steuern für Reiche
Ihren Argwohn brachte die Stiftung erstmals im vergangenen September zum Ausdruck, und zwar mit der Publikation der Resultate einer Umfrage unter 50 Unternehmen mit insgesamt 30 000 Beschäftigten im Kanton. Dabei gaben rund drei Viertel der befragten Firmen an, die Rahmenbedingungen in Genf seien nicht mehr attraktiv.
Die Umfrageteilnehmer begründeten ihr Missfallen vor allem mit der unzureichenden Verkehrsinfrastruktur in und rund um die Stadt, der angespannten Situation im Wohnungsmarkt und Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Fachkräften. Auch die hohen Sätze bei der Individualbesteuerung, die Genf gutverdienenden Einwohnern aufbürdet, wurden angeprangert. 62 Prozent der Unternehmen bezeichneten sie als problematisch, und 72 Prozent antworteten gar, dass eine weitere Erhöhung sie zum Wegzug bewegen könnte.
Ghostine stufte die Ergebnisse als «Alarmsignal» ein. Im Mediencommuniqué zur Umfrage wird er mit den Worten zitiert, dass Genf handeln müsse.
DSM-Firmenich operiert lieber aus dem Aargau
Der gebürtige Libanese, der seit neun Jahren im Kanton lebt und sich dort, wie er betont, sehr wohl fühlt, war damals noch Chef des traditionsreichen Genfer Aromen- und Riechstoffherstellers Firmenich. Dieselbe Firma hatte knapp vier Monate zuvor entschieden, mit dem niederländischen Chemiekonzern DSM zusammenzugehen.
Zugleich waren die beiden Partner übereingekommen, ihre künftige Konzernzentrale nicht in Genf, sondern im aargauischen Kaiseraugst und im niederländischen Maastricht anzusiedeln. Laut dem Unternehmen sprach für Kaiseraugst die Tatsache, dass von dort 50 Prozent der gruppenweiten Geschäfte geführt würden. Maastricht habe man wegen der langjährigen Verbundenheit von DSM mit den Niederlanden als zweiten Standort für den Hauptsitz gewählt.
Neu bei Sandoz
Für Ghostine, den Verfechter Genfer Qualitäten, muss die Nichtberücksichtigung der Calvinstadt eine bittere Pille gewesen sein. Zu den Hintergründen der Standortwahl von DSM-Firmenich will sich der Präsident von Flag nicht äussern. Er gab seinen Posten als Chef von Firmenich mit der Fusion auf und arbeitet nun hauptberuflich als Verwaltungsratspräsident des Basler Generikaherstellers Sandoz, der noch dieses Jahr aus der Novartis-Gruppe ausgegliedert und verselbständigt werden soll.
Im Gespräch erwähnt Ghostine indes eine Studie, deren Ergebnisse Flag Anfang Mai publizierte. Die Stiftung beauftragte das Institut d’économie appliquée (Créa) der Universität Lausanne, zu untersuchen, wie attraktiv Genf im Vergleich mit den Kantonen Zug, Waadt, Zürich und Basel-Stadt sei, die ebenfalls viele multinationale Unternehmen beherbergen.
Drückende Verschuldung
Laut Ghostine bestätigte sich, wie ungenügend Genf insbesondere bei der Verkehrsinfrastruktur abschneidet. So habe sich gezeigt, dass ein Verkehrsteilnehmer, ungeachtet der Wahl des Transportmittels, in Zürich im Durchschnitt pro Stunde 22,5 Kilometer zurücklege, während es in Genf nur knapp 16 seien. Ein weiteres Problem sei die hohe Verschuldung des Kantons. 2020 erreichte sie 45 Prozent des Bruttoinlandprodukts, wohingegen es im Durchschnitt der anderen Kantone nur 18 Prozent waren. Pro Kopf betrug das damalige Schuldenniveau Genfs rund das Doppelte von jenem in Basel-Stadt und war fast viermal höher als in der Waadt.
Handlungsbedarf ortet Ghostine auch bei der Wohnungssituation. Die stark international ausgerichtete Wirtschaft des Kantons sei darauf angewiesen, hochqualifizierte Führungskräfte anzulocken. Für sie seien zu wenige Wohnungen in Genf verfügbar.
Wegen der Knappheiten im lokalen Wohnungsmarkt sehen sich viele Beschäftigte in Genf gezwungen, grosse Distanzen in Kauf zu nehmen. Viele Arbeitnehmer wohnen im Kanton Waadt oder im benachbarten Frankreich.
Lem und Alcon halten Genf die Treue
Von den rund 250 Mitarbeitern, die der Genfer Industriekonzern Lem an seinem neuen Hauptsitz in Meyrin zählt, sind 60 Prozent Grenzgänger. Der Hersteller von Elektrokomponenten, der weltweit tätig ist, ist im vergangenen Jahr innerhalb des Kantons umgezogen. Wie der Konzernchef Frank Rehfeld ausführt, hat Lem im Vorfeld andere Standorte angeschaut. «Wir kamen dann aber klar zum Schluss, dass Genf nach wie vor der richtige Ort für uns ist.»
Laut Rehfeld punktet der Raum Genf weiterhin mit einer hohen Lebensqualität. Sie mache es für viele Fachkräfte attraktiv, in die Region zu ziehen. Nur beim Verkehr, so räumt auch er ein, habe Genf Verbesserungspotenzial.
Der Medizintechnikkonzern Alcon hat Genf ebenfalls die Treue gehalten. Die Firma, die auf Produkte im Bereich der Augenmedizin spezialisiert ist, weihte im vergangenen Mai ihren neuen Hauptsitz ein. Im modernen Bürogebäude, das auch im Vorort Meyrin liegt und in dem das Unternehmen die obersten zwei von neun Stockwerken belegt, ist Rajkumar Narayanan, Chef des Geschäftsbereichs International und Mitglied der Konzernleitung, des Lobes voll über den Standort.
Der Manager, der aus Indien stammt, streicht neben einer «sehr transparenten» Steuergesetzgebung für Unternehmen und der Internationalität Genfs die gute Verfügbarkeit von Fachkräften hervor. «Was wir hier an Talenten bekommen, ist phänomenal», schwärmt er.
Es fehlt an bekannten neuen Namen
Solche dezidierten Aussagen zugunsten Genfs relativieren ein Stück weit die heftige Kritik, die in letzter Zeit aus Wirtschaftskreisen auf den Kanton geprallt ist. Allerdings halten sich Manager gerade gegenüber den Medien oft mit Vorwürfen an Behörden zurück. Das Problem von Genf scheint aber ohnehin nicht das Halten der vielen multinationalen Unternehmen zu sein, die bereits im Kanton aktiv sind. Deutlich mehr Mühe bekundet der Kanton bei der Anlockung neuer Firmen. In den vergangenen Jahren sind anders als beispielsweise in Zug oder in Basel kaum mehr bekannte Namen nach Genf gezogen.
Fatal wäre es, meint Ghostine, wenn Genf sich auf den Lorbeeren ausruhen würde. Die Stadt und der Kanton müssten mutiger werden, wenn es darum gehe, die Attraktivität des Standorts weiter zu steigern.
So plädiert der Präsident von Flag dafür, bei Massnahmen zur Steigerung der Lebensqualität verstärkt auf Nachhaltigkeit insbesondere in ökologischer Hinsicht zu setzen. Andere Städte seien Genf diesbezüglich voraus, sagt er. Für dringend hält Ghostine zudem die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Startups. In Zug, in Zürich und in der Waadt würden zur Unterstützung innovativer Unternehmen zurzeit attraktivere Pakete geschnürt.