Minus 80 Prozent hochradioaktiver Abfall: Genfer Startup möchte mit neuem Reaktor Atommüll rezyklieren Das Genfer Atomenergie-Startup Transmutex hat eine Technologie entwickelt, die den Atommüll massiv reduzieren könnte. Die Nagra hält die Berechnungen für plausibel, hält aber am Endlager fest.
Das Genfer Atomenergie-Startup Transmutex hat eine Technologie entwickelt, die den Atommüll massiv reduzieren könnte. Die Nagra hält die Berechnungen für plausibel, hält aber am Endlager fest.
Der Gemeindesaal im Mehrzweckgebäude in Stadel ZH ist gut gefüllt. Die Veranstalter zeigen sich «überwältigt» davon, dass so viele Leute gekommen sind. Hier, wo sonst der Dramatische Verein des Dorfes Komödien und Krimis aufführt, steht ein kleines Rednerpult vor dem riesigen, roten Samtvorhang. Auf dem Programm steht ein Vortrag von Franz Strohmer, dem Leiter Brennstoff und Wiederaufbereitung des Genfer Atomenergie-Startups Transmutex.
Es ist kein Wunder, dass Strohmer den Saal füllt. Drei Kilometer entfernt soll das Endlager für radioaktive Abfälle entstehen. Franz Strohmer wird in seinem Vortrag erklären, was sein Unternehmen mit den radioaktiven Abfällen machen würde: Es würde sie nicht für immer und ewig vergraben. Sondern sie rezyklieren und in einem völlig neuartigen Reaktor verbrennen, den das Unternehmen derzeit entwickelt.
Kernschmelze unmöglich
Transmutex wurde 2019 gegründet und ist privat finanziert. Das Unternehmen beschäftigt 38 Mitarbeiter aus 16 Nationen. Das Konzept für den revolutionären Kernreaktor wurde vor Jahren von einem Team um Carlo Rubbia ersonnen. Der Physik-Nobelpreisträger war früher Generaldirektor des Cern, der weltberühmten Europäischen Organisation für Kernforschung.
Rubbia erdachte einen Reaktor, bei dem es gar nicht erst zu einer Kernschmelze wie in Tschernobyl oder Fukushima kommen kann. Und der praktisch keinen hochradioaktiven Abfall produziert. Im Gegenteil: Er nutzt bestehenden Abfall als Brennstoff – und reduziert dessen Menge damit massiv. «Transmutation» nennt sich dieser Vorgang.
Transmutex hat nun ausgerechnet, um wie viel ihre Technologie den nuklearen Abfall in der Schweiz reduzieren könnte. Das Ergebnis bei den besonders gefährlichen, hochradioaktiven Abfällen: um über 80 Prozent. Dazu kommt: Durch die Transmutation könnte die für das Abklingen der Strahlung benötigte Zeit um den Faktor 1000 verkürzt werden. Nach 500 Jahren wäre der verbleibende Abfall ungefährlich. «Das ist ein Zeitraum, von dem Menschen eine Vorstellung haben», spricht Strohmer in den Saal.
Berechnung laut Nagra plausibel
Berechnet wurden diese Werte auf der Basis von Zahlen, die von der Nagra stammen, der Organisation, die für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle zuständig ist. Es ist nicht aussergewöhnlich, dass sich die Nagra mit Transmutex beschäftigt. «Wir schauen uns alle Technologien an, die einen Einfluss auf die Endlagerung haben könnten», sagt Tim Vietor, der Leiter des Bereichs Sicherheit, Geologie und Radioaktive Materialien bei der Nagra. Dabei werde ein breites Spektrum abgedeckt, von der Verwendung von Robotik für die Einlagerung der strahlenden Abfälle bis hin zu völlig neuartigen Reaktorkonzepten.
Vietor sagt, die Berechnungen zu den Abfallmengen und zu der für das Abklingen nötigen Zeitdauer seien plausibel. «Liesse sich die Transmutation anwenden, hätten wir weniger hochaktive Abfälle», bestätigt er. «Dafür würden hingegen mehr schwach- und mittelaktive Abfälle anfallen.»
Das Konzept ändert darum nichts an der Planung der Nagra. «Ein Tiefenlager braucht die Schweiz so oder so», sagt Vietor. Das räumt auch Transmutex ein. Die Nagra hat laut Vietor einen klaren Auftrag: ein Tiefenlager für die radioaktiven Abfälle in der Schweiz zu bauen. Konzepte wie jenes des Genfer Jungunternehmens «entheben uns nicht von dieser Verantwortung». Es gebe keinen Grund, jetzt die Hände in den Schoss zu legen und die Lösung der Endlagerungsfrage den nächsten Generationen überlassen.
Sechs Kleinreaktoren
Um den nuklearen Abfall zu bearbeiten, wäre laut Transmutex-Experte Strohmer eine Anlage nötig, in welcher die 12 500 abgebrannten Brennelemente rezykliert und für ihren weiteren Einsatz vorbereitet werden. Zudem müssten sechs Transmutex-Kleinreaktoren gebaut werden, welche die aufbereiteten Abfälle dann verwerten. Nach 50 Jahren hätten sie den gesamten Bestand an abgebrannten Brennelementen verarbeitet.
Die sechs Reaktoren hätten eine Leistung, die etwa jener des Kernkraftwerks Leibstadt entspricht. Ein Prototyp des Reaktors würde laut Berechnungen des Startups etwa 1,5 Milliarden Euro kosten, in Serienproduktion würden sich der Betrag auf rund 700 Millionen Euro reduzieren. Ähnlich teuer wäre die Anlage für die Trennung des Mülls.
Die Schweiz müsste für die Umsetzung des Konzepts also mit 6 Milliarden Euro rechnen. Die Anlagen würden nicht nur durch die Stromproduktion finanziert. Sie könnten laut dem Transmutex-Experten Strohmer Spaltprodukte liefern, die sich verkaufen lassen – etwa Cäsium-137, das bereits heute für die Bestrahlung von Tumoren verwendet wird.
In der Schweiz wären allerdings zwei Gesetzesänderungen nötig, weil der Bau neuer Kernkraftwerke sowie die Aufarbeitung von Abfällen nicht erlaubt sind. Zumindest das Neubauverbot für Kernkraftwerke könnte aber fallen: Im Februar wurde eine entsprechende Volksinitiative eingereicht.
Bewilligung in den USA angestrebt
Transmutex setzt ohnehin nicht nur auf die Schweiz. Das Unternehmen will bis 2035 eine Zulassung der US-Nuklearbehörde erhalten. Auf dieser Basis will es dann in weiteren Ländern eine Bewilligung anstreben. Laut Strohmer sind verschiedene Staaten an der Technologie interessiert, es gebe auch Angebote zur Finanzierung. Transmutex wolle aber weiterhin ein privates Unternehmen bleiben. Bis im Winter soll die nächste Finanzierungsrunde abgeschlossen sein, mit der das Startup etwa 200 Millionen Franken einsammeln will.
Ursprünglich war auch eine Zusammenarbeit mit Russland angedacht. Die Atomindustrie des Landes hätte wichtige Teile für die Anlagen liefern sollen. Inzwischen hat man diese Pläne aufgegeben, wie ein Mitarbeiter des Jungunternehmens bestätigt. «Nach dem Angriff Russlands war klar, dass eine weitere Zusammenarbeit nicht möglich ist», sagt er.
Nagra-Experte Vietor sagt, die Pläne des Startups seien anspruchsvoll in der Umsetzung. So könne es etwa bei der geplanten Aufbereitung des Abfalls nicht auf einen bereits etablierten Prozess zurückgreifen. Zudem müssten Standorte für die verschiedenen nötigen Anlagen gefunden werden.
Abfälle lassen sich zurückholen
Die Nagra wird im November beim Bund ein Rahmenbewilligungsgesuch für das Endlager bei Stadel einreichen. Heute rechnet sie damit, dass schwach- und mittelaktive Abfälle voraussichtlich etwa ab dem Jahr 2050 und hochaktive Abfälle etwa ab 2060 im geologischen Tiefenlager eingelagert werden. Laut Vietor bleibt Transmutex darum noch Zeit, um zu beweisen, dass ihr Konzept funktioniert und umgesetzt werden kann.
Dazu kommt, dass die Abfälle nach der Einlagerung noch längere Zeit rückholbar wären, weil die Lagerstätte nicht sofort vollständig verschlossen wird. Die Abfallbehälter werden zudem so eingelagert, dass man sie bei Bedarf wieder greifen und an die Oberfläche bringen könnte, wie Vietor erklärt.
Nach dem Vortrag von Transmutex-Mann Strohmer hagelt es Fragen aus dem Publikum im Gemeindesaal. Ein Dorfbewohner sagt zwar, er wolle neben dem Endlager nicht auch noch eine Anlage für die Wiederaufbereitung in seinem Dorf. Doch zum Schluss brandet tosender Applaus auf, mit dem wohl auch der Dramatische Verein zufrieden wäre. Nur einen Misston gibt es: Auf ein gemeinsames Bild mit Transmutex wollen die an diesem Abend anwesenden Vertreter der Nagra dann doch nicht.