Die BVG-Reform hat Mängel – aber wer sie ablehnt, stärkt die linke Umverteilungspolitik Die Rentenzuschläge gehen zu weit, und wichtige Eckwerte sind unklar: Trotzdem verdient die Reform der beruflichen Vorsorge Unterstützung. Wenn sie scheitert, droht die Rentenpolitik erst recht aus dem Ruder zu laufen.

Die Rentenzuschläge gehen zu weit, und wichtige Eckwerte sind unklar: Trotzdem verdient die Reform der beruflichen Vorsorge Unterstützung. Wenn sie scheitert, droht die Rentenpolitik erst recht aus dem Ruder zu laufen.

(Bild: Tingey Injury Law Firm auf Unsplash)

Woher nur kommen all die schrecklichen Begriffe? Wer den Umwandlungssatz kennt und vielleicht sogar den Koordinationsabzug, stolpert am Ende wohl über die Eintrittsschwelle: Die Diskussion über die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG), über die wir am 22. September abstimmen, ist eine rhetorische Zumutung. Um sich nicht in den Komplikationen der Pensionskassenwelt zu verirren, lohnt sich ein Schritt zurück. Es geht bei dieser Abstimmung um mehr als Prozentsätze und Schwellenwerte.

Auf dem Spiel steht das grosse Ganze der Altersvorsorge. Die Debatte berührt eine der schwierigsten Fragen der Gegenwart: Wie stellen wir sicher, dass die Renten nicht nur solid, sondern auch fair finanziert werden – und dies in einer Zeit, in der erstens die Zahl der Pensionierten deutlich stärker zunimmt als die der jüngeren Generationen und in der zweitens die Lebenserwartung steigt und steigt? Die Schweiz tut sich schwer damit. Demografie kollidiert mit Demokratie.

Die Diskussion kreist um die zwei tragenden Säulen der Vorsorge: die AHV und die Pensionskassen (BVG). Beide haben Stärken und Schwächen, und die Unterschiede zwischen ihnen sind nicht nur versicherungsmathematisch relevant – nein: Hier prallen Ideologien aufeinander, stehen sich grundverschiedene Ideen von Gesellschaft, Solidarität und Eigenverantwortung gegenüber.

  • AHV – der Durchlauferhitzer: In der Umlagefinanzierung der ersten Säule fliesst das Geld quasi direkt von den Erwerbstätigen zu den Pensionierten. Mit der enormen Umverteilung von Jung zu Alt und Reich zu Arm entspricht die AHV linken Idealen einer schier unbegrenzten Solidarität. Die Lohnbeiträge sind nach oben offen, die Renten hingegen gedeckelt. Das Sozialwerk ist zentral gesteuert, in ihm verschmilzt die ganze Bevölkerung zum Kollektiv, verbunden über Lohn- und Rentenausweise, Ein- und Auszahlungen. Geht es um die AHV, liegt Sozialromantik in der Luft. Wie die Abstimmung über die 13. Rente gezeigt hat, geniesst das Sozialwerk auch in bürgerlich-ländlichen Milieus grosse Sympathien. Kein Wunder: Die Alterung ist so weit fortgeschritten, dass die Mehrheit der Stimmberechtigten von einem Ausbau der AHV profitiert. Zahlen müssen die Jüngeren.
  • BVG – das Sparschwein: Die Pensionskassen bilden das Gegenstück, sie stehen für die nüchterne Welt der Selbstverantwortung: Jeder spart im Prinzip für sich selbst, unterstützt vom Arbeitgeber und von den Kapitalmärkten. Zwar wirken auch hier Solidaritäten, diese beschränken sich aber auf die eigene Pensionskasse und werden kaum wahrgenommen. Im Gegensatz zur AHV ist die zweite Säule radikal föderalistisch. Es gibt 1400 Pensionskassen und noch mehr verschiedene Reglemente und Sparpläne. Deshalb lassen sich zu den Folgen der BVG-Reform kaum generelle Aussagen machen (abgesehen davon, dass die grosse Mehrheit praktisch nichts davon merken wird). Vielfalt und Individualität gehören zur Idee einer beruflichen Vorsorge, scheinen aber mittlerweile vielen suspekt zu sein. Man vertraut zwar der eigenen Pensionskasse, nicht aber dem System an sich.

2 : 0 für die Umverteilung

Wie viel AHV, wie viel BVG? Dies ist eine der zentralen Fragen nicht nur für die Stabilität der Altersvorsorge, sondern auch für die Balance zwischen den Generationen. Eine wichtige Weichenstellung hat das Volk im März vorgenommen: Die 13. Rente fand trotz drohenden Defiziten eine Mehrheit, chancenlos war hingegen die Idee eines Automatismus für die schrittweise Erhöhung des Rentenalters. Mit anderen Worten: 2 : 0 für die Umverteilung.

Dies ist der aktuelle Zwischenstand vor der BVG-Abstimmung. Man sollte ihre Bedeutung nicht unterschätzen, nach den AHV-Entscheiden ist dies die nächste Weichenstellung. Sie wird lange nachwirken. Leider kann man nicht behaupten, die BVG-Reform sei ein Wurf. Eher ist sie ein klassischer Kompromiss, wenn nicht gar ein Murks. Allerdings ist die Materie politisch enorm aufgeladen. Tief blicken lässt, dass die Vorlage nun vor allem von den Gewerkschaften und einigen Tieflohnbranchen bekämpft wird. Sie dürfte einen schweren Stand haben, nach den Rechenfehlern und Zahlenwirrnissen der letzten Wochen erst recht.

Es gibt gute Gründe, die Reform abzulehnen. Ihre Ziele an sich sind zwar löblich: Die Vorlage soll das BVG-Minimum wieder an die Realitäten der Lebenserwartung und der Zinsen annähern (Stichwort: überhöhter Umwandlungssatz). Sie verbessert zudem die Vorsorge für Personen mit tieferen Löhnen oder Teilzeitpensen, vor allem also für Frauen. All dies ist überzeugend, die Umsetzung aber ist es weniger.

Das Hauptproblem ist die Übergangsregelung für die über 50-Jährigen: Sie ist teuer, kompliziert und unpräzis. Es wird Versicherte geben, die trotz Zuschlag mit tieferen Renten rechnen müssen. Vor allem aber werden sehr viele einen Zuschlag erhalten, bei denen dies nicht nötig wäre, weil ihre Rente gar nicht sinkt.

Unschöne Konsequenz: Die systemfremde Querfinanzierung von Erwerbstätigen zu Neurentnern, die heute bei einem kleinen Teil der Pensionskassen im Bereich des BVG-Minimums stattfindet, wird durch die Reform zwar gemildert – aber erst später. In den ersten 15 Jahren gibt es weiterhin Umverteilungen, die je nach Experte und Studie sogar höher ausfallen könnten als die bestehenden. Das ist ärgerlich.

Aber was wäre die Alternative? Man darf nicht vergessen, wie der Prozess verlaufen ist, der zu dieser Reform geführt hat. Am Anfang war ein Paukenschlag: 2019 haben die Gewerkschaften und der Arbeitgeberverband einen erstaunlichen Deal präsentiert, der in Sachen Querfinanzierung noch viel weiter ging.

Sie wollten eine Art «Mini-AHV» in die berufliche Vorsorge einpflanzen: eine dauerhafte, systemwidrige Umverteilung von Jung zu Alt, die allein in den ersten 15 Jahren 30 Milliarden Franken gekostet hätte. Gemessen daran ist die vorliegende Reform mit 11 Milliarden bescheidener. Nicht nur das: Im Gegensatz zum damaligen Vorschlag muss die Allgemeinheit nicht die vollen Kosten tragen, weil die betroffenen Pensionskassen selbst einen grösseren Teil übernehmen.

Linke Dauerkampagne gegen die Pensionskassen

Wer die jetzt vorliegende BVG-Reform ablehnt, muss wissen, dass das nicht das Ende der Geschichte ist. Die Debatten werden im Herbst nahtlos weitergehen. Im Fokus steht dann wieder die AHV, zuerst mit der Finanzierung der 13. Rente. Danach muss Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider schon bald die ersten Pflöcke für die nächste grosse Reform einschlagen, um die AHV für das nächste Jahrzehnt zu sichern.

Grosser Streitpunkt wird die Erhöhung des Rentenalters sein. Für AHV und BVG wäre es gleichermassen wichtig, dass wir nicht ewig so tun, als sei es kein Problem, wenn die Dauer des Rentenbezugs immer weiter wächst. Ein höheres Rentenalter ist demografisch überfällig, politisch aber unpopulär – eine toxische Mischung in der direkten Demokratie.

Was das mit der BVG-Reform zu tun hat? Mehr, als man meinen könnte. Die Linke wird weiterhin alles daransetzen, die AHV auszubauen und ein höheres Rentenalter zu verzögern. Wichtiges Element dieses Kampfs ist eine schier endlose Negativkampagne gegen die Pensionskassen und die berufliche Vorsorge. Mit notorischer Hartnäckigkeit reden Gewerkschaften, SP und Grüne die Renten und die Kosten der zweiten Säule schlecht. Mit Verweis auf angebliche Abzockereien der Lebensversicherer, die ein Fünftel der Vorsorgegelder verwalten, versuchen sie das ganze System in Misskredit zu bringen. Die Taktik ist klar: Glauben die Leute nicht mehr an das BVG, sind sie eher bereit, die AHV auszubauen.

Dreimal Nein heisst wohl für immer Nein

Die Linke wird jubilieren, wenn das Volk die BVG-Reform versenkt, und sie wird ihren Sieg auszunutzen wissen. Dass es auch in der Wirtschaft und im bürgerlichen Lager Minderheiten gibt, die sich gegen die Reform aussprechen, wird sie nicht kümmern. Es sind klar die Gewerkschaften, die in der Nein-Kampagne den Ton angeben. Nach den Abstimmungen vom März wäre es für die Linke im Seilziehen um die Altersvorsorge der dritte Sieg in Folge. Machtpolitisch wird sich dies im Bundeshaus unweigerlich niederschlagen. Vor allem in der Mitte-Partei, die im Rentendossier – ob es einem gefällt oder nicht – den Ausschlag gibt, werden die Widerstände gegen ein höheres Rentenalter oder andere strukturelle Reformen weiter zunehmen.

Man sollte sich nichts vormachen. Wenn die BVG-Reform scheitert, ist dies bereits das dritte Mal, dass das Volk einen tieferen Umwandlungssatz ablehnt. Einen vierten Versuch wird es kaum geben. Das heisst aber nichts anderes, als dass das im Gesetz hochoffiziell definierte Minimum der beruflichen Vorsorge definitiv zur Fiktion verkommt. Seine Eckwerte werden sich noch mehr von der Realität entfernen, als es bereits der Fall ist. Kurzfristig und technisch betrachtet ist das keine Katastrophe. Die Pensionskassen können sich damit arrangieren. Aber gut ist es nicht.

Wenn die gesetzliche Basis der zweiten Säule nachhaltig schief steht, wenn das BVG politisch als nicht mehr reformierbar gilt, wenn obendrein die Linke mit einem weiteren Abstimmungssieg ihre sozialpolitische Lufthoheit ausbaut: Dann verheisst all das nichts Gutes für die weiteren Diskussionen über die Renten.

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