Wie zwei Zürcher Startups versuchen, Anwaltskanzleien digitaler zu machen Die Rechtsbranche hinkt in Sachen Digitalisierung anderen Sparten hinterher. Gerade in der Schweiz. Zwei junge Zürcher Legal-Tech-Unternehmen wollen das nun ändern. Und welche Rolle dabei künstliche Intelligenz spielt.

Die Rechtsbranche hinkt in Sachen Digitalisierung anderen Sparten hinterher. Gerade in der Schweiz. Zwei junge Zürcher Legal-Tech-Unternehmen wollen das nun ändern. Und welche Rolle dabei künstliche Intelligenz spielt.

 

Das Gründer-Team der DeepJudge AG. Von links: Kevin Roth, Florian Schmidt, Paulina Grnarova und Yannic Kilcher. (Bild: PD)

Was ist schwieriger: einem Vegetarier ein Stück Fleisch zu verkaufen oder in der eher verstaubten Schweizer Rechtsbranche eine Software anzubieten, die auf künstlicher Intelligenz (KI) beruht?

Abschliessend lässt sich die Frage nicht beantworten. Einfach wird es das Zürcher Startup DeepJudge aber nicht gehabt haben, als es auf die grossen Zürcher Kanzleien zugegangen ist und sein Produkt vorgestellt hat.

Das junge Legal-Tech-Unternehmen, gegründet von vier ETH-Doktorandinnen und -Doktoranden, hat eine KI für die semantische Suche und die intelligente Bearbeitung von Rechtsdokumenten entwickelt. Die DeepJudge-KI wurde mithilfe von Abertausenden von Dokumenten trainiert, um semantisch verwandte Textpassagen miteinander zu verknüpfen und relevante Rechtskonzepte zu verstehen.

Doch wie sieht es mit den Gründern und Gründerinnen aus? Die NZZ hat drei der vier Köpfe des Unternehmens in einem Café in Zürich getroffen und dabei festgestellt, dass keiner von ihnen einen juristischen Hintergrund hat. Sie alle kommen aus den Computerwissenschaften und sehen darin auch einen Vorteil, da sie im Gegensatz zu eher juristisch geprägten Legal-Tech-Startups sehr viel KI-Wissen mitbringen.

«Viele der existierenden Legal-Tech-Unternehmen wurden von Juristinnen und Juristen gegründet, das stimmt», sagt der Chef-Datenwissenschafter des Unternehmens, Kevin Roth, und fügt an: «Wir haben uns mit der Überzeugung gegründet, dass wir mit unserem Wissen darüber, wie man einer KI beibringt, aus Daten zu lernen, auch ohne Jurastudium ein überzeugendes Produkt entwickeln können. Aber natürlich sind wir nicht naiv, also haben wir uns früh mit namhaften Investoren aus der Rechtsbranche und der Startup-Welt zusammengetan und haben mittlerweile auch Juristinnen und Juristen in unser Team geholt.»

Der Kern der Produkte von DeepJudge ist ein Algorithmus, der unter anderem Dokumente analysieren und sie mit bereits früher analysierten Gesetzestexten, Urteilen und Verträgen vergleichen kann. Bis in die Haarspitzen motiviert, führt uns die Mitgründerin und CEO Paulina Grnarova die Software persönlich vor.

Die Software analysiert das Dokument, und plötzlich werden auf dem Bildschirm Dutzende Punkte markiert, bunt gefärbt und mit Querverweisen zu allen nötigen relevanten Informationen angereichert.

Die junge Geschäftsführerin erzählt uns von einem Treffen mit einer Kanzlei. Um die Vorteile der KI-basierten semantischen Suche zu demonstrieren, fütterte Paulina Grnarova die KI mit einem Auszug aus einem bekannten Bundesgerichtsentscheid, bei dem die Firma Apple das Wort «Apple» als Wortmarke schützen will.

Die Aufgabe der KI ist es, relevante ähnliche Entscheide zu finden. Und siehe da, die KI spuckt auf Anhieb Entscheide aus, bei welchen zum Beispiel die Post das Wort «Post» oder die Firma Boss das Wort «Boss» schützen wollten. Die Partner der Kanzlei sind begeistert, war einer von ihnen doch tatsächlich in den Apple-Fall involviert und hatte nach reichlich Recherchearbeit dieselben Bundesgerichtsentscheide gefunden.

Austausch mit grossen Zürcher Kanzleien

Das Startup-Team hat sich in der Szene bereits einen Namen gemacht und wurde bei etlichen Kanzleien in Zürich vorstellig. Eine davon war die Wirtschaftskanzlei Niederer Kraft Frey (NKF).

«Wir sind in einem regelmässigen Austausch mit DeepJudge», sagt Alexander Göbel, der Legal-Tech-Officer und Rechtsanwalt bei NKF. DeepJudge sei ein smartes Team, welches derzeit die Schnittmenge von technologischen Möglichkeiten und offenen, mit Technologie zu lösenden juristischen Problemstellungen evaluiere. In der Schweiz gehöre das Zürcher Startup definitiv schon zur Legal-Tech-Prominenz.

NKF selbst setzt in der Dokumentenverarbeitung bereits auf KI-basierte Software, die laut Göbel hilft, die Stecknadel im Heuhaufen zu finden. KI unterstütze auf jeden Fall bei der Problemlösung, aber ein Ersatz für den Menschen sei sie nicht. «Es ist mehr wie ein zweites Paar Augen», so Göbel. Früher habe man mitunter gar nicht nach der Nadel gesucht, weil es teilweise aufgrund der Dokumentenmenge einfach aussichtslos erschienen sei.

Die Implementierung von Legal Tech sei teilweise herausfordernd. Das liege unter anderem am zeitaufwendigen Training der KI. Er könne deshalb verstehen, wenn andere Kanzleien weniger Zeit und Geld in solche Technologien investieren wollten. Bei NKF merke er aber, dass Kunden wegen der erhöhten Qualität durch KI einen Mehrwert sähen. Zudem messe sich NKF auch mit dem Ausland, und dort sei man der Schweiz etwas voraus.

KI als denkendes, fühlendes Wesen

Auch die Wirtschaftskanzlei Walder Wyss war mit DeepJudge in Kontakt und konnte das Tool ausprobieren. Noch lasse es sich aber nicht in die internen Abläufe integrieren, sagt der dortige Legal-Tech-Verantwortliche Urs Bracher. Auch bei Walder Wyss kommt KI punktuell bereits zum Einsatz – sei es bei der Recherche, beim Verfassen von Dokumenten oder der Analyse grosser Dokumentensammlungen.

Wie NKF setzt auch Walder Wyss die KI unterstützend ein. Dadurch werde man effizienter, aber der Mensch werde nicht ersetzt, sagt Bracher. Bei KI denken viele Menschen an Science-Fiction-Filme wie «I, Robot» oder «Matrix». In diesen Filmen wird KI als denkendes, fühlendes und damit menschenähnliches Wesen dargestellt. Doch genau das ist eine KI nicht, zumindest noch nicht.

Laut Bracher ist es deswegen auch in absehbarer Zeit nicht möglich, dass aufgrund von KI Arbeitsplätze bei Walder Wyss gestrichen werden. Es gibt dennoch auch Schattenseiten bei der künstlichen Intelligenz. Eine davon sei das aufwendige Training, meint Bracher. Nur dann sei nämlich auch der Output qualitativ hochwertig. Zudem sei eine Anwaltskanzlei immer mit der Frage konfrontiert, wer die KI mit welchen Daten trainiert habe.

Datencenter in der Schweiz

Bei der KI von DeepJudge wird das Training durch das Startup selbst durchgeführt. Gerade darin sieht beispielsweise Alexander Göbel von NKF eine Chance für den ETH-Spin-off. «DeepJudge könnte sich durch Training mit Schweizer Dokumenten auszeichnen. Denn die meisten KI-Lösungen werden von den Anbietern nur auf Englisch trainiert.»

Betrachtet man die Herausforderungen im Legal-Tech-Bereich, führt kein Weg am Datenschutz vorbei. Noch immer seien viele Lösungen Cloud-basiert, aber nur wenige der im Legal-Tech-Bereich relevanten Datencenter seien in der Schweiz angesiedelt. «Aufgrund des Anwaltsgeheimnisses und des Datenschutzes ist das aber ein Thema, das bei der Zusammenarbeit mit Legal-Tech-Firmen unbedingt berücksichtigt werden muss», sagt Göbel.

DeepJudge steht noch am Anfang, doch laut den Gründern strecken nun immer mehr Kanzleien die Fühler aus. Ihre Software soll ab dem Sommer erhältlich sein. Daneben plant das mittlerweile zwölfköpfige Team bereits eine Expansion nach Deutschland.

Plattform mit Marktplatzgedanke

Ein anderes Zürcher Startup im Legal-Tech-Bereich ist da schon einen Schritt weiter. Jurata hat eine gleichnamige Online-Rechtsplattform entwickelt, die Privatpersonen und KMU Zugang zu Rechtsdienstleistungen verschafft.

Hinter der Plattform steht der klassische Marktplatzgedanke. Kunden kommen mit ihrem Problem auf die Plattform und sollen den passenden Anwalt finden. «In der Rechtsbranche wird, wie in vielen anderen Bereichen, Zeit für Geld verkauft. Viele wollen aber fixe Rechtsprodukte zu fixen Preisen», sagt der Mitgründer Luca Fábián, der selbst über einen Jus-Abschluss verfügt.

Gerade für Privatpersonen leuchtet der Nutzen der Plattform deshalb ein, denn die Rechtsbranche hinkt in Sachen Digitalisierung und Kundenfreundlichkeit anderen Sparten deutlich hinterher. Besonders für Personen, die auf der Suche nach einem Anwalt oder einem juristischen Rat sind, ist es schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen und in Bezug auf die Preise transparente Angebote zu finden.

Für Kanzleien sei es derzeit noch ein Akquise-Kanal, sagt Fábián. Die Anwälte können zielgenau Fälle übernehmen, die zu ihren Fähigkeiten passen. Mittelfristig ist es laut Fábián auch das Ziel, die Plattform für die Fallbearbeitung zu nutzen. Denn so könnten alle Seiten profitieren.

Grosses Potenzial im KMU-Bereich

Gegenwärtig bieten nach Aussagen von Jurata rund 1200 Anwältinnen und Anwälte auf der Plattform ihre Dienste an, das entspricht ungefähr 10 Prozent der Schweizer Anwaltschaft. Fábián führt aus, dass es sich dabei vor allem um kleinere und mittlere Kanzleien handle. Die grossen Kanzleien hätten ein anderes Geschäftsmodell, welches mehr auf Empfehlungen beruhe.

Jurata hat Anfang Februar eine Finanzierungsrunde über eine halbe Million Franken abgeschlossen und möchte mit dem Geld das Wachstum in der Schweiz weiter vorantreiben. «Strategisch liegt der Fokus in diesem Jahr auf dem KMU-Bereich», sagt der Mitgründer Fábián. Hier sehe das Startup das grösste Potenzial. Dafür sei man aber darauf angewiesen, dass KMU eine zunehmende Bereitschaft zeigten, die etablierten Beziehungen zu ihren «Hausanwälten» im Einzelfall jeweils unvoreingenommen neu zu evaluieren, um so zielgenau die jeweils passendste Lösung zu finden. «Denn es gibt für jeden Fall auch den passenden Anwalt.»

Legal Tech ist also nicht gleich Legal Tech. Die Unterschiede zwischen den zwei Zürcher Startups sind gross. Dennoch haben sie etwas gemeinsam. Beide mischen mit einer erfrischenden Art die etwas angestaubte Rechtsbranche auf.

Dennis Hoffmeyer, «Neue Zürcher Zeitung»

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