Fachkräftemangel und KI: Firmen finden neue Wege, um Angestellte für Zukunftsberufe zu qualifizieren Für die Jobs von morgen brauchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter andere Kompetenzen. Die Aus- und Weiterbildung wird zur Mammutaufgabe. Wie gehen Unternehmen vor?
Für die Jobs von morgen brauchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter andere Kompetenzen. Die Aus- und Weiterbildung wird zur Mammutaufgabe. Wie gehen Unternehmen vor?
Der Roboter «Pepper», der sich durch die Halle des neuen Energy Center der Bühler Group bewegt, verzückt die Besuchergruppe mit seinen manchmal klugen und manchmal absurden Antworten. Wenige Schritte weiter erstellen zwei Lernende an einem 3-D-Drucker Prototypen für die Fertigung. Im nächsten Trakt des Gebäudes ist ein Gesundheitszentrum untergebracht, und im zweiten und dritten Stock des «Lernlabors» befinden sich die Räumlichkeiten für die Aus- und Weiterbildung.
Für fast alle der 12 700 Mitarbeitenden des Industrieunternehmens gehören digitalisierte Prozesse zum Arbeitsalltag. Bei den Auszubildenden üben bereits rund die Hälfte einen digitalen Beruf aus – wie Automatiker, Informatiker und neuerdings «Entwickler digitales Business». «In wenigen Jahren dürften drei Viertel der Lernenden in digitalen Berufen tätig sein», sagt Christof Oswald, Personalchef bei Bühler. Um den immensen sowie stets wachsenden Bedarf an flexiblen Fachkräften zu decken, welche die neuen Erfordernisse erfüllen, treibt das Familienunternehmen eine grosse Aus- und Weiterbildungsoffensive voran. Es muss selbst im grossen Stil aktiv werden, denn es kann sich nicht darauf verlassen, dass die staatlichen Bildungsangebote rechtzeitig den neuen Anforderungen angepasst werden.
Resilienz aufbauen
Das Energy Center, das einen zweistelligen Millionenbetrag gekostet hat, umfasst die Bereiche Aus- und Weiterbildung, Prototyping & Production sowie Gesundheitsmanagement. In der Aus- und Weiterbildung werden Hunderte Lernmodule angeboten. In der Sparte Prototyping & Production arbeiten Lernende und erfahrene Spezialisten zusammen an neuen Produkten, um den Wissenstransfer zu erhöhen und das generationenübergreifende Lernen zu fördern. Zum Gesundheitsmanagement zählen neben der Erstversorgung die Ausbildungen in den Bereichen Ernährung, Bewegung und Erholung sowie Check-ups, Physiotherapie und Fitness-Angebote.
«Wir haben global betrachtet alle paar Jahre eine Krise. Daher brauchen wir Mitarbeitende mit einer eigenverantwortlichen Resilienz», sagt Oswald. Dies habe nichts mit Selbstoptimierung zu tun. Im Energy Center würden Angestellte vielmehr unterstützt, eine gute körperliche, mentale und fachliche Basis im Berufs- und Privatleben zu schaffen, um langfristig leistungsfähig zu sein sowie mit Veränderungen und Krisen umgehen zu können.
Neuanfang gegen Ende der Karriere
Früher wechselten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Bühler selten in andere Positionen und Bereiche. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert. «Es ist bei uns keine Ausnahme mehr, dass sich auch erfahrene Angestellte gegen Ende ihrer Karriere beruflich nochmals neu erfinden», sagt der CEO Stefan Scheiber. Eine bedeutende Voraussetzung dafür seien die flexiblen Rahmenbedingungen für die Pensionierung. «Auch die Firmenkultur spielt eine wichtige Rolle», sagt Scheiber. Wenn beispielsweise ein Bereichsleiter nicht in Pension gehe, sondern auf einer tieferen Hierarchiestufe ein neues Projekt vorantreibe, werde dies heute positiv bewertet und nicht mehr als Karriererückschritt wahrgenommen.
Scheiber hat, ebenso wie Oswald und zahlreiche andere Manager bei Bühler, viele verschiedene Positionen ausgeübt. Auch Mario Davatz, der das Energy Center leitet, hat sich in seiner Karriere immer wieder neu erfunden. Der Quereinsteiger war zuvor als Investmentbanker und als Direktor eines Skigebiets tätig. «Das Energy Center steht grundsätzlich allen offen, etwa auch Lieferanten, Kunden und Bildungsinstitutionen», sagt Davatz. Unter anderem bildet das Uzwiler Unternehmen Lernende anderer Betriebe aus. Das Ziel ist, das Energy Center profitabel zu betreiben und – auch durch Kooperationen – einen Beitrag dazu zu leisten, dass Arbeitskräfte die Qualifikationen und Fähigkeiten erwerben können, die es für die Berufe der Zukunft braucht.
Gelerntes veraltet schnell
Noch kommt es selten vor, dass Konzerne erhebliche Summen in die Aus- und Weiterbildung investieren, Partnerschaften mit Konkurrenten eingehen sowie mit staatlichen Stellen, der Wissenschaft und Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten. Dabei wären gemeinsame Anstrengungen notwendig. Denn vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Fachkräftemangels und des raschen technologischen Wandels ist absehbar, dass sich weltweit viele Menschen weiterbilden und umschulen müssen. Die OECD schätzt, dass sich im nächsten Jahrzehnt 1,1 Milliarden Arbeitsplätze durch die Technologie radikal verändern werden.
Das Gelernte veraltet immer schneller: Die durchschnittliche Halbwertszeit von Qualifikationen liegt heute bei weniger als fünf Jahren, im digitalen Bereich sind es sogar nur ein bis zwei Jahre. Die für den «Future of Jobs Report 2023» des World Economic Forum befragten Firmen prognostizieren, dass 44 Prozent der Fähigkeiten der Angestellten in den nächsten fünf Jahren Disruptionen unterworfen sein würden.
Das Schlagwort «lebenslanges Lernen» macht zwar schon lange die Runde, und Firmen lancieren vermehrt Aus- und Weiterbildungsangebote. Doch erst wenige gehen strategisch vor, haben eine Lernkultur etabliert und entwickeln Talente mit wichtigen Fähigkeiten, die sie nur schwer rekrutieren können. So hat etwa Ericsson im grossen Stil Telekommunikationsspezialisten zu KI- und Data-Science-Experten umgeschult.
Receptionist wird Versicherungsberater
Entscheidend ist dabei, die Perspektive zu wechseln. Nicht mehr fachliche Qualifikationen und branchenspezifische Abschlüsse sollen bei Rekrutierungen ausschlaggebend sein, sondern vermehrt generelle Fähigkeiten und das Potenzial der Kandidaten. Wer beispielsweise eine hohe Sozialkompetenz hat und gut mit Kunden umgehen kann, wird diese Fähigkeit auch in einem anderen Kontext einsetzen können.
Der Versicherer Helvetia rekrutiert etwa auch branchenfremde Kandidaten für den Aussendienst, unter ihnen Verkäuferinnen, Köche oder Receptionisten. Wer die Anforderungen erfüllt, absolviert ein mehrmonatiges Ausbildungsprogramm. Die Ausbildungskosten seien hoch, doch unter dem Strich zahlten sich die Investitionen für das Unternehmen aus, sagt Daniela Reolon, Leiterin Change and Development bei Helvetia Schweiz.
Wichtig sei auch, dass Mitarbeitende die Möglichkeit hätten, in anderen Sparten Erfahrungen zu sammeln und gegebenenfalls die Abteilung zu wechseln. Beim Versicherer können bereits Lernende eine Stage in einem anderen Geschäftsbereich absolvieren. Ausserdem gibt es sogenannte Blind Dates mit zufällig ausgewählten Kolleginnen und Kollegen aus anderen Bereichen, mit denen man sich trifft, sich über die Arbeit austauscht und voneinander lernt.
Es braucht nicht alle Qualifikationen für den Job
«Rollenbilder verändern sich laufend», sagt Hamiyet Dogan, Leiterin HR bei Helvetia. Ein Controller könne sich heute beispielsweise nicht mehr nur auf die Zahlen konzentrieren, sondern müsse auch gut kommunizieren können. Diese Veränderungen gelte es bei der Aus- und Weiterbildung der Mitarbeitenden und bei den Rekrutierungen zu berücksichtigen.
Bei den Einstellungen stünden das Interesse der Personen an einem Thema und die grundsätzliche Eignung für den Job im Vordergrund. «Es braucht heute nicht alle Qualifikationen, um eingestellt zu werden», sagt Dogan. Die noch fehlenden Kompetenzen könne sich der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin später im Job aneignen.
Die Verantwortung für die Karriereentwicklung liegt bei den Mitarbeitenden. Wer sich verändern will, wird vom Vorgesetzten unterstützt. Aber auch für Angestellte, die mit ihrem Job zufrieden seien und ihn gerne eine lange Zeit ausübten, habe es im Unternehmen Platz, sagt Dogan.
Welche Berufe entstehen neu?
Doch wie erkennt eine Firma rechtzeitig, welche Jobs entstehen und welche Kompetenzen in Zukunft gefragt sind? «Es ist nicht einfach, zu planen, welche Fähigkeiten wir künftig im Unternehmen benötigen», sagt Nicole Gerhardt, Chief Organizational Development & People Officer bei o2/Telefónica. Der Telekomanbieter setzt künstliche Intelligenz ein, um im Internet Metastudien zu Schlüsselkompetenzen der Zukunft sowie die Jobangebote mit den erforderlichen Qualifikationen der führenden Technologiekonzerne abzugreifen. Die Erkenntnisse dienen Gerhardts Team als Ausgangspunkt für die Diskussionen mit den Fachbereichen, um gemeinsam herauszufinden, welche Kompetenzen aufgebaut werden müssen.
Auf einer KI-gestützten Plattform erfasst das Unternehmen derzeit auf freiwilliger Basis die in der Belegschaft vorhandenen Fähigkeiten und nimmt eine einheitliche Klassifizierung vor. Damit soll sichtbar werden, welche Kompetenzen sich beispielsweise ein Controller noch aneignen muss, wenn er sich zum Data-Scientist umschult. Das Klassifizieren klingt allerdings einfacher, als es ist. So braucht es für viele Berufe eine gute Kommunikationsfähigkeit, doch die erforderlichen Niveaus sind von Beruf zu Beruf unterschiedlich.
Da künftig viel mehr Menschen mit KI-Modellen zusammenarbeiten werden, nimmt laut Gerhardt die Bedeutung bestimmter Fähigkeiten wie kritisches Urteilsvermögen, ein ethischer und moralischer Kompass sowie Freude am Denken zu. In der Rechtsabteilung könnte KI künftig für die Sichtung komplexer Verträge eingesetzt werden. «Die Bereitschaft, Neues zu lernen und sich beruflich weiterzuentwickeln, muss trainiert werden wie ein Muskel», sagt Gerhardt. Interne Umfragen hätten bestätigt, dass sich nicht nur Berufseinsteiger gerne umorientierten, sondern auch Angestellte ab Mitte 50.
Tipps für die Karriere
Der IBM-Chef Arvind Krishna antwortete auf die Frage eines Mitarbeiters, welchen Karriere-Tipp er ihm geben könne: «Stärke deine kommunikativen Fähigkeiten, finde heraus, wie du in deiner Rolle einen Mehrwert für die Firma liefern kannst, und entwickle deine Neugier.» Neugier zu entwickeln, bedeutet bei IBM Folgendes: Fehler machen zu dürfen, unvoreingenommen zu sein, neuartige Fragen zu stellen, Dinge kritisch zu hinterfragen, thematisch tiefer zu gehen, über den Tellerrand hinauszuschauen, Spass am Lernen zu haben und sich auf Neues einzulassen.
Ferda Aydogan, Head of Career & Talent Management bei IBM, hat vor 25 Jahren bei IBM Schweiz mit einer KV-Lehre begonnen, war danach in der Verkaufsabteilung tätig, wechselte in die Personalabteilung der Schweizer Einheit und arbeitet heute auf globaler, strategischer HR-Ebene. Dieser Werdegang ist für Konzernangestellte nicht untypisch. Nach durchschnittlich drei bis vier Jahren suchten Mitarbeitende eine neue Herausforderung, sagt Aydogan. Zunächst können sie im Bereich, für den sie sich interessieren, Projekterfahrung sammeln, und sie tauchen damit auf dem Radar der Abteilungsleiterin auf. Oder es ist möglich, sogenanntes Shadowing zu betreiben und Kollegen in bestimmten Funktionen bei der Arbeit zu begleiten.
Freude am Lernen als Voraussetzung
Die Aus- und Weiterbildung wird bei IBM von KI-basierten Systemen unterstützt. Diese analysieren die Stärken und Schwächen der Mitarbeitenden, zeigen ihnen personalisierte Lernpfade auf und passen die Lernmodule automatisch entsprechend an. Jede und jeder im Unternehmen muss jährlich 40 Stunden der Arbeitszeit für Aus- und Weiterbildung einsetzen, wobei es den Personen offensteht, wie, wo und wann sie dies tun.
Als Schlüsselkompetenzen für die Zukunft hat IBM Kommunikation, Lernfähigkeit und emotionale Intelligenz identifiziert. Diese Fähigkeiten werden gezielt gefördert, etwa indem die Mitarbeitenden in Produktetests eingebunden werden. So finden regelmässig abteilungsübergreifende Wettkämpfe statt. Die Gruppen treten gegeneinander an, und die beste Idee für die Weiterentwicklung des Produkts wird auserkoren. Jüngst haben die Angestellten die generative KI «Watson X» getestet.
Bei diesen «Challenges» geht es nicht allein um die Verbesserungen der Produkte im Vordergrund, sondern die Wettkämpfe sollen auch dazu beitragen, dass die Aus- und Weiterbildung sinnvoll in den Arbeitsalltag integriert wird und dass Lernen den Angestellten Freude bereitet. Beides sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass die Angebote die gewünschte Wirkung entfalten und sich die Investitionen auszahlen.
Natalie Gratwohl, «Neue Zürcher Zeitung»