Künstliche Intelligenz bedroht vor allem «white-collar jobs» – schafft sie bald auch Manager ab? KI kann nicht nur Verwaltungsaufgaben übernehmen, sondern ist in ersten Firmen bereits als Managerin im Einsatz. Doch die heutigen Modelle machen oft noch Fehler – und tun sich schwer mit moralischen Entscheiden.
KI kann nicht nur Verwaltungsaufgaben übernehmen, sondern ist in ersten Firmen bereits als Managerin im Einsatz. Doch die heutigen Modelle machen oft noch Fehler – und tun sich schwer mit moralischen Entscheiden.
Mehr als 300 Jahre nach der Erfindung der ersten Dampfmaschine blickt die Welt gespannt auf die nächste Technologie, der zugetraut wird, die Arbeitswelt grundlegend zu verändern: künstliche Intelligenz. KI werde bald alle Jobs übernehmen, sagen die einen, künstliche allgemeine Intelligenz (AGI), die komplett selbständig denken kann, sei nur einen Katzensprung entfernt.
Andere sind vorsichtiger und betonen, dass es immer auch einen Menschen brauchen werde, der die Technologie bediene und betreue. «KI ersetzt nicht den Menschen. Aber KI ersetzt Menschen, die keine KI benutzen», lautet ein in der Branche vielzitierter Spruch. Er soll eine Art Versicherung sein für die Arbeitnehmer: Wenn ihr bereit seid, euch mit den Verheissungen der neuen Technologie auseinanderzusetzen und die wichtigsten Tools zu lernen, ist eure Stelle sicher.
Meldungen aus den ersten Wochen dieses Jahres deuten in eine andere Richtung. So haben mehrere grosse Unternehmen Stellenstreichungen angekündigt, die direkt oder indirekt mit künstlicher Intelligenz zusammenhängen.
KI übernimmt immer mehr Aufgaben
Dazu gehören Tech-Unternehmen wie Google, Amazon und SAP, die ihre jüngsten Stellenstreichungen mit einem grösseren Fokus auf KI begründeten. Das heisst, dass für die Jobs, die wegfallen, an anderer Stelle neue entstehen. So kündigte der deutsche Softwarekonzern SAP zwar an, 8000 Stellen abzubauen, will aber gleichzeitig eine Milliarde Euro in die Entwicklung von künstlicher Intelligenz stecken.
Doch nicht alle KI-bedingten Kündigungen lassen sich auf diese harmonische Weise erklären. Die Sprachlern-App Duolingo verlängerte kürzlich Freelancer-Verträge nicht, weil sich KI als gut darin erweist, Texte für die Sprachübungen der App zu erstellen. Der amerikanische Paketdienst UPS kündigte an, 12 000 Stellen zu streichen, die nicht nachbesetzt werden sollen. Weil KI inzwischen vermehrt Aufgaben wie die Ermittlung der Preise für Sendungen übernimmt, werden in diesen Bereichen künftig weniger Mitarbeiter gebraucht.
Seit dem Erfolg von Chat-GPT dreht die Diskussion darüber, welche Jobs der Technologie als Erstes zum Opfer fallen, ihre Runden. Inzwischen ist man sich darin einig, dass es sogenannte «white-collar jobs» treffen wird – also Tätigkeiten, die von Büroangestellten in weissen Hemden ausgeübt werden, etwa in der Verwaltung, im Marketing oder im Finanzwesen.
Der Einstieg in den Beruf wird leichter
Der Reflex liegt nahe, dabei zuerst an einfache Routineaufgaben zu denken, die üblicherweise von Mitarbeitern auf Einstiegsebene erledigt werden. Tatsächlich zeigen Studien, dass Berufseinsteiger besonders von der Technologie profitieren: Weil eine KI ihre Fähigkeiten durch online verfügbare Trainingsdaten erworben hat, bildet sie durchschnittliche von Menschen kreierte Inhalte ab. Wer im Job unterdurchschnittliche Leistungen erbringt, profitiert also mehr von künstlicher Intelligenz. Das wiederum senkt die Hürde, einen Job zu ergreifen.
Bei Jung von Matt merkt man das bereits. Die Werbeagentur mit Sitz in Zürich setzt Chatbots unter anderem ein, um Ideen für neue Slogans zu generieren. «‹Mach mal 100 Headlines› war bisher eine klassische Aufgabe für einen Junior-Texter, also einen Einsteiger. Diese Routinetätigkeiten werden auf absehbare Zeit von KI übernommen werden können», sagt der Geschäftsführer Roman Hirsbrunner. Doch dabei stelle sich für ihn eine zentrale Frage: «Wenn die KI typische Junior-Aufgaben übernimmt, wie entwickelt man sich dann zum Senior weiter?»
Wegen solcher Problemstellungen geht eine Studie des Beratungsunternehmens Oliver Wyman davon aus, dass der zunehmende Einsatz von KI zu einer Umstrukturierung der Hierarchien führen wird. Da Aufgaben in Einsteigerpositionen besonders gut automatisiert werden können, wird die Arbeit auf Einstiegsebene künftig mehr wie die der ersten Führungsebene aussehen. Das wiederum könnte zu einer Verflachung des mittleren Managements führen, der Vorstufe zu höheren Führungspositionen.
KI bald auch in der Chefetage?
Doch ob die KI bei den Einsteigerpositionen haltmacht, ist umstritten. Die Technologie kann schliesslich nicht nur Ideen für Überschriften ausspucken, sondern auch Verträge aufsetzen, Texte redigieren oder medizinische Diagnosen erstellen. Warum, fragen sich einige, sollte sie dann nicht auch Führungsaufgaben übernehmen können?
Eine KI könne vieles besser als die durchschnittliche Führungskraft, sagte der Psychologe Niels Van Quaquebeke, Professor für Leadership and Organizational Behavior an der Kühne Logistics University in Hamburg, kürzlich gegenüber dem Magazin «Brand eins». Sie treffe analytische, datengetriebene Entscheidungen, sei rund um die Uhr verfügbar, habe ein hervorragendes Gedächtnis und könne individuelle Kommunikation analysieren und darauf eingehen. Hinzu kommt, dass Maschinen, anders als Menschen, nicht zu spontanen Wutausbrüchen neigen oder sich unangebracht gegenüber jungen Mitarbeiterinnen verhalten.
Tatsächlich soll etwa bei dem Paketdienst UPS der grösste Teil der Entlassungen im Managementbereich stattfinden. Auch in anderen Firmen ist KI bereits als Managerin im Einsatz.
Ein virtuelles Wesen als CEO
Die Modemarke Hugo Boss hat ihre Fabrik in Izmir zu einer Smart Factory umgerüstet, in der rund 1600 Tablets die Mitarbeiter und Maschinen vernetzen und Produktionsdaten in Echtzeit verfolgen. KI wertet die Daten aus, macht Vorschläge zur Prozessoptimierung und bewertet Risiken. So wurde praktisch das gesamte untere und mittlere Management ersetzt. Auch beim japanischen Elektrotechnikkonzern Hitachi erteilt KI den Arbeitern in Logistikzentren Anweisungen und analysiert die Arbeitsabläufe. Sie reagiert auch auf kurzfristige Veränderungen, etwa einen plötzlichen Anstieg der Nachfrage, und passt die Abläufe entsprechend an.
Noch einen Schritt weiter geht der Onlinespielentwickler Netdragon Websoft: Dessen Tochtergesellschaft Fujian Netdragon wird seit August 2022 von einem KI-gesteuerten, virtuellen Wesen in Menschengestalt namens Tang Yu geführt. Die Chefin arbeitet 24 Stunden am Tag, ohne Gehalt, und erfüllt laut dem Gaming-Konzern klassische Aufgaben eines CEO. Sie führe etwa Risikoanalysen durch und treffe strategische Entscheidungen. Dejian Liu, Vorsitzender von Netdragon, wird in einer Pressemitteilung zitiert: «Wir glauben, dass KI die Zukunft der Unternehmensführung ist.»
Remote Work befeuert die Entwicklung
Dass künstliche Intelligenz auch ausserhalb von Fabriken und Logistikzentren Führungsaufgaben übernehmen kann, hängt mit einem anderen Trend zusammen, der in den vergangenen Jahren die Arbeitswelt bestimmte: die Verlagerung von Arbeit und Kommunikation in den digitalen Raum durch Remote Work und Home-Office. Wenn Kommunikation ausschliesslich über digitale Kanäle stattfindet, kann sie bereits jetzt problemlos von einer KI durchgeführt werden. Wichtig ist dann nur noch, dass diese sinnvolle und nachvollziehbare Aufträge erteilt.
Der Psychologe Niels Van Quaquebeke geht deswegen davon aus, dass KI langfristig das untere und mittlere Management ersetze. Was bleibt, sind laut seinen Prognosen Senior Manager, die die KI führen und strategische sowie ethische Entscheide treffen.
Ob es so weit kommen wird, ist ungewiss, denn dazu müsste die Technologie in beachtlichem Masse weiterentwickelt werden. Heutige Modelle machen viele Fehler, treffen oftmals unethische Entscheide und sind schwer vorhersehbar, da man meist nicht weiss, mit welchen Daten sie trainiert wurden. In den meisten Fällen ist es deswegen nach wie vor am sinnvollsten, KI als Co-Pilot einzusetzen, der einem menschlichen Mitarbeiter assistiert und diesen effizienter macht.
Berater lassen sich von der KI überzeugen
Ein breit angelegtes Experiment der Boston Consulting Group zum optimalen Einsatz von KI in Unternehmen fand heraus, dass das Duo Mensch/Maschine besonders bei kreativen Aufgaben wie beim Sammeln von neuen Produktideen gut abschneidet. Die KI macht Vorschläge, die von Menschen im Anschluss optimiert werden.
Bei Aufgaben, die auf Problemlösung abzielten, brachte das Experiment jedoch das gegenteilige Resultat: Berater, die von einer KI unterstützt wurden, schnitten schlechter ab als ihre selbständig arbeitenden Kollegen – weil sie sich von der KI von falschen Dingen überzeugen liessen und deren Resultate nicht kritisch genug hinterfragten.
Nelly Keusch, «Neue Zürcher Zeitung»