Das Ende des Migros-Märchens: Wie das speziellste Unternehmen der Schweiz sich demontiert Niemand war mächtiger, niemand stabiler als die Migros. Jetzt scheint alles auf dem Spiel zu stehen. Was ist passiert?
Niemand war mächtiger, niemand stabiler als die Migros. Jetzt scheint alles auf dem Spiel zu stehen. Was ist passiert?
Es war einmal ein Unternehmen, das war anders als alle anderen im Land. Es hatte keinen Besitzer, sondern Zehntausende Eigentümer. Es wollte zwar wachsen, aber nicht um jeden Preis und nicht so sehr, dass es seine eigenen Werte dafür verraten würde.
Es waren ehrbare Werte. Sozial sollte es sein gegenüber den Angestellten und seinen Lieferanten. Und bescheiden. Die Preise für seine Güter so tief wie möglich, dafür war es schliesslich da: für die einfachen Leute, damit diese ein ebenso gutes Leben führen konnten wie die Reichen. Genügend Essen, ja, gutes Essen! Ferien für alle! Gute Bücher, Konzerte und Sport für alle!
Die Leute mochten das Unternehmen. Sie spürten: Es war wirklich für sie alle da.
Ein Märchen eben.
«Eusi Migros weiss, was si will
Eusi Migros, die staat nie still
Eusi Migros bliibt immer jung
Jo, eusi Migros, die hät eifach Schwung»
Es ist das Jahr 1975, die Migros wurde gerade 50 Jahre alt. Eine Familie aus dem Kanton Zürich trägt das Lied, das sie geschrieben hat, voller Inbrunst vor. Sie hat das Lied auf eigene Faust komponiert. Der Migros gefällt es so sehr, dass sie es kurzerhand zum Geburtstagssong macht.
Der Migros-Gründer ist da bereits 13 Jahre tot, ein runder Mann mit Melone, der manchmal die Beherrschung verlor, wenn er Unrecht spürte. Ein umtriebiger Mann, der sich in vielem versuchte und die Leute mit seinen Ideen immer wieder überraschte. Er blieb ohne Nachkommen, vielleicht schenkte er die Migros auch deshalb den Menschen.
Das hat lange gut funktioniert. Die Migros wächst und wächst und wächst. Irgendwann ist sie so mächtig wie kaum ein anderes Unternehmen im Land. Nirgendwo sind mehr Menschen beschäftigt. Die Leute arbeiten gerne für die Migros. Sie zahlt die Löhne zuverlässig, wer einmal angestellt worden ist, darf bleiben, jahrzehntelang.
Im Jahre 2024, 99 Jahre nach der Gründung der Migros, ändert sich alles von einem Tag auf den anderen. Den Menschen wird verkündet, dass es der Migros schlechtgehe. So schlecht, dass sie vieles, was sie getan habe, so schnell wie möglich beenden müsse. Sie müsse sich von Tochterunternehmen trennen und vor allem, das erstaunt die Menschen am meisten, Angestellte entlassen. Jeder und jede Zehnte werde bald nicht mehr für die Migros arbeiten, sie werde um die Grösse einer Kleinstadt schrumpfen.
Die Menschen sind aufgebracht. Was ist mit ihrer Migros geschehen? Was für Fehler hat sie begangen, dass sie nun mit solcher Hast solch radikale Schritte unternehmen muss? Und tragen sie selbst vielleicht gar Schuld daran?
Problem 1: Eine schlechte Unternehmerin
Der Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler hatte keine Kinder, die sein Erbe weiterführen konnten – geschweige denn, es in eine neue Zeit führen würden. Aber es gibt einen Mann, dem eine ähnlich komplexe Aufgabe anvertraut worden war.
Philippe Gaydoul geht schnell durch ein Zürcher Altstadthaus, setzt sich in einen violett-samtigen Sessel und sagt: «Schiessen Sie los.»
Gaydoul war von 2001 bis Ende 2009 Chef der Discountkette Denner, er hat die Migros viele Jahre beobachtet. Denner war zwar keine direkte Konkurrenz, zu unterschiedlich die Konzepte: hier der Supermarktgigant mit mehreren zehntausend Produkten, dort die Billigkette mit knapp 2000 Artikeln.
Für Gaydoul war schon damals klar: Die Migros hatte sich selbst verraten. Er sagt: «Der Anfang vom Ende der Migros war vor etwas mehr als 20 Jahren. Da hat die Migros Markenartikel ins Sortiment aufgenommen und ihr wichtigstes Gut aufgegeben: ihre Unvergleichbarkeit.»
Gaydouls Grossvater Karl Schweri hatte ihm 2001 die Denner-Führung übergeben. Schweri hatte Denner zum grössten Discounter der Schweiz gemacht. Er war, wie Dutti, eine öffentliche Figur, politisch aktiv, ein Kämpfer für die Konsumenten, der selbsternannte Robin Hood des Detailhandels. Dutti und Schweri kannten sich nicht gut. Doch Gaydoul sagt: «Mein Grossvater hatte nicht vor vielen Menschen Respekt, aber er hatte grossen Respekt vor Gottlieb Duttweiler. Es war klar: Zur Migros schaute man auf.»
Schweri und Duttweiler waren beide Unternehmer mit einer grösseren Idee. Sie kämpften für den einfachen Kunden, möglichst tiefe Preise sollten möglichst vielen Menschen Wohlstand ermöglichen. Schweri verkaufte seit 1967 Markenartikel zu Discountpreisen. Duttweiler Eigenmarken, die er in eigenen Fabriken herstellen liess, weil die Markenhersteller ihn nicht beliefern wollten.
Anfang der nuller Jahre entschieden die Migros-Chefs plötzlich, Markenartikel wie Elmex oder Evian ins Sortiment aufzunehmen. Gaydoul beobachtete das interessiert. Es bestätigte ihm, was er immer vermutet hatte – dass die Migros nie wirklich günstiger gewesen war: «Bis dahin hatten die Leute dies immer geglaubt, weil die Migros ihre Eigenmarken hatte. Als sie dann ebenfalls Evian ins Regal stellte, konnte man die Preise plötzlich vergleichen: Wieso war Evian bei der Migros teurer als bei Denner?»
Viele Kritiker beklagten damals den Verrat an Duttis Erbe. Für Gaydoul war es mehr als das: eine unternehmerische Fehleinschätzung.
Dass die Migros-Führung damals wirklich davon überzeugt war, ihre Kunden würden zwischen Zweifel-Chips und Migros-Chips auswählen wollen, bezweifelt er: «Die monatlichen Auswertungen aller Detailhändler auf Waren- und Artikelgruppen hatten gezeigt: Es gab absolut keine Notwendigkeit, das Sortiment durch Markenartikel zu ergänzen. Die einzige Ausnahme: Coca-Cola.»
Gaydoul war auch geprägt von der eigenen Geschichte. Er hatte bei seinem Grossvater erlebt, was passieren kann, wenn man das Konzept eines Unternehmens verwässert. Als Gaydoul Denner übernahm, steckte der Discounter in der Krise. Das Sortiment war für einen Discounter viel zu stark gewachsen, die Kosten waren dadurch gestiegen, Denner hatte die Preisführerschaft – und damit sein Alleinstellungsmerkmal – verloren. Zugleich verkamen die Läden. Gaydoul renovierte die Läden, reduzierte das Sortiment. Er hatte eine Regel: «Für jedes Produkt, das neu reinkommt, muss eines raus.» Gaydoul wusste: Discount ist ein knallhartes Geschäft. «Discount ist eine Disziplin.»
Gaydoul handelte auch aus finanziellem Druck. Der war bei der Migros in diesen Jahren nicht gegeben. «Die Migros war überheblich geworden und glaubte, ihr könne nichts passieren», sagt Gaydoul heute.
Wem nichts passieren kann, der kann auch ausprobieren. Die Migros probierte viel. Immerhin lag das in ihrer DNA. Duttweiler selbst hatte wilde Abenteuer gestartet. Vor dem Zweiten Weltkrieg ging er nach Berlin und gründete ein Handelsgeschäft mit Verkaufswagen – ähnlich wie er 1925 die Migros in der Schweiz gestartet hatte. Doch dieses Mal funktionierte es nicht. Hitlers NSDAP schikanierte nichtdeutsche Unternehmen wie die Migros. 1933, nach weniger als zwei Jahren, war der Traum geplatzt. Die Lust auf Expansion aber blieb.
Dutti versuchte sich im Taxibusiness, kaufte sogar einmal Schiffe. Was bei den Expansionen aber immer zentral war: Die Migros folgte einer grösseren Idee. Als Dutti Hotelplan, Ex Libris oder die Klubschulen gründete, ging es darum, der Bevölkerung günstige Reisen, Bildung und Bücher anzubieten. Später entschied die Migros-Führung, auch Sportartikel, Elektronikwaren oder Möbel zu verkaufen. Doch irgendwann wirkte es so, als ob die Migros einfach auch noch einen Teil des Kuchens einer neuen Branche sichern wollte.
Geld für die unternehmerischen Experimente war vorhanden, weil die Migros den Gewinn nicht an Aktionäre ausschütten musste. Also kaufte sie in den neunziger Jahren ein Luxuswarenhaus wie Globus. Richtig wild und unkoordiniert investierte sie dann in den nuller und zehner Jahren: 2007 kaufte man die Fitnesskette Activ Fitness, 2009 den Dekorationsartikelverkäufer Depot, 2010 die Arztpraxiskette Medbase, 2010 Ryffel, einen Joggingschuhverkäufer, 2012 eine erste Tranche des Onlinehändlers Digitec-Galaxus (später dann weitere Anteile), 2012 die deutsche Detailhandelskette Tegut, 2014 den amerikanischen Süssigkeitenhersteller Sweetworks.
Disziplin? Wer es gut meint, nennt es Trial-and-Error-Startup-Mentalität. Im Rückblick entpuppte es sich als schlechtes Unternehmertum.
Nur logisch, stellte die Migros viele Tochterfirmen, die sich nicht direkt mit dem Migros-Gedanken verbinden liessen, nicht stolz unter das orange M, sondern hielt sie vielmehr davon fern. Bei Marken wie Globus sei penibel darauf geachtet worden, dass sie nicht mit der Migros in Verbindung stünden, sagt eine ehemalige Kaderperson. «Wir sagten immer: Die Leute müssen gar nicht wissen, ob das die Migros ist.»
Die Migros betrieb viele der zugekauften Firmen nie erfolgreich. Vor sechs Jahren begann sie zahlreiche Zukäufe wieder abzustossen. Weil sie zusammengekauft hat, was nicht zusammengehört? Der Ex-Denner-Chef Gaydoul verneint: «Wenn die Migros ein Unternehmen kaufte, hat sie es einfach wie ein Stiefkind behandelt. Wenn Coop etwas gekauft hat, wurde dieses Unternehmen Teil der Coop-Familie. »
Philippe Gaydoul ist sich bewusst, dass er sich mit seinen Analysen ein Stück weit aus dem Fenster lehnt. Schliesslich wurde Denner selbst ein Teil des Migros-Universums. 2007 verkaufte Gaydoul 70 Prozent seines Unternehmens an die Migros. Aldi und Lidl drängten in die Schweiz, und Gaydoul war klar: «Wenn zwei grosse deutsche Konkurrenten in den Schweizer Markt eintreten, bin ich als Familienunternehmer aufgefordert, meiner Familie Optionen aufzuzeigen.»
Ausgerechnet die Migros, die Gaydoul so kritisch beobachtet hatte? «Es gab keinen sichereren Arbeitgeber im Land. Ich wusste: Die stellen nicht die Hälfte der Leute vor die Tür, denn die Migros war trotz allem grundsolide.»
Gaydoul blieb drei Jahre als CEO von Denner an Bord, aber: «Mein Name war fortan ein Reizwort im Migros-Universum. Jede Woche im Umsatzvergleich sah man: Denner legt deutlich mehr zu als die Migros. Unsere Personalkosten waren zwischen 4,5 und 5 Prozent, bei der Migros 15 Prozent. Vorher hatten sie diesen Vergleich noch nie so auf dem Tisch. Nun sahen sie plötzlich alles schwarz auf weiss.»
Gleichzeitig habe die Migros überall Geld ausgegeben, bloss nicht in ihrem Kerngeschäft, den Supermärkten. «Die Migros hat sich wenig um ihre Läden gekümmert. Sie hat zwar neue Filialen gebaut, aber die alten hat sie vor sich hingammeln lassen», sagt Gaydoul.
Wenn Gaydoul solch harte Urteile fällt, spricht aus ihm auch ein Migros-Fan: «Mir tut leid, was derzeit passiert. Ich finde trotz allem, dass die Migros zu den coolsten Brands des Landes gehört.»
Die Migros war lange die beste Unternehmerin der Schweiz, weil sie in vielem die Erste war. Heute ist sie das Unternehmen, das Chancen verpasst hat. Da ist zum Beispiel die Sache mit den Daten. 1997, noch bevor Google und Facebook gegründet wurden, startete die Migros ihr Kundenbindungsprogramm namens Cumulus. «Die Migros hatte damals schon einen Datenschatz. Was wurde damit gemacht? Nichts. Die Amerikaner mussten uns später erklären, wie wichtig Daten sind», sagt Gaydoul. Verbessert hat sich das seither nur begrenzt. Ein ehemaliger IT-Mitarbeiter der Migros klagt: «Wenn ich, längst pensioniert und Vater von erwachsenen Kindern, noch immer Gutscheine für Windeln bekomme – dann werten sie diese Daten doch einfach nicht aus.»
Oder die Sache mit Bio. Bereits in den achtziger Jahren soll eine Kaderperson in der Migros-Industrie mit Bioprodukten experimentiert haben. Die Führung habe sie zurückgepfiffen. Stattdessen machte Coop Bioprodukte zum Teil seines Markenkerns.
Bis Mitte der nuller Jahre waren unternehmerische Fehler zumindest im Kerngeschäft nicht verheerend. Coop holte zwar langsam und stetig auf. Aber die Migros war gut und doch immer etwas günstiger. Wer hätte ihr gefährlich werden können?
Inzwischen teilen sich die beiden Riesen Migros und Coop das Feld mit Discountern wie Aldi und Lidl. Ein ehemaliger Migros-Filialleiter sagt: «Am Anfang haben wir verächtlich auf die deutsche Konkurrenz geblickt und sind davon ausgegangen, dass die gegen den Platzhirsch ohnehin keine Chance haben. Inzwischen sehen wir: Die sind mehr als konkurrenzfähig. Sie sind inzwischen sogar lokal verankert.» Auch Aldi und Lidl haben heute Biolinien, bieten Früchte und Gemüse aus der Region an.
Was mit Aldi und Lidl klarwurde: Günstig zu sein, reicht nicht mehr. Es braucht mehr. Die Geschichte, eine gute Geschichte. Zum Glück hatte die Migros das. Noch.
Problem 2: Die Migros hat die Kontrolle über ihre Geschichte verloren
Vor ein paar Wochen, als der Migros-Chef Mario Irminger versuchte, den Journalisten zu erklären, wie er vorhat, die Migros wieder auf Wachstumskurs zu bringen, geschah etwas, das für die Migros von heute typisch ist. Kurz nachdem er verkündet hatte, man suche noch einen Käufer, der die Fachmarktkette Melectronics komplett übernehme, schrieb der «Tages-Anzeiger»: «Migros Aare schliesst M-Electronics-Filialen offenbar im Alleingang.»