Das Ende des Migros-Märchens: Wie das speziellste Unternehmen der Schweiz sich demontiert Niemand war mächtiger, niemand stabiler als die Migros. Jetzt scheint alles auf dem Spiel zu stehen. Was ist passiert?

Niemand war mächtiger, niemand stabiler als die Migros. Jetzt scheint alles auf dem Spiel zu stehen. Was ist passiert?

(Illustration: Simon Tanner / NZZ)

Es war einmal ein Unternehmen, das war anders als alle anderen im Land. Es hatte keinen Besitzer, sondern Zehntausende Eigentümer. Es wollte zwar wachsen, aber nicht um jeden Preis und nicht so sehr, dass es seine eigenen Werte dafür verraten würde.

Es waren ehrbare Werte. Sozial sollte es sein gegenüber den Angestellten und seinen Lieferanten. Und bescheiden. Die Preise für seine Güter so tief wie möglich, dafür war es schliesslich da: für die einfachen Leute, damit diese ein ebenso gutes Leben führen konnten wie die Reichen. Genügend Essen, ja, gutes Essen! Ferien für alle! Gute Bücher, Konzerte und Sport für alle!

Die Leute mochten das Unternehmen. Sie spürten: Es war wirklich für sie alle da.

Ein Märchen eben.

«Eusi Migros weiss, was si will
Eusi Migros, die staat nie still
Eusi Migros bliibt immer jung
Jo, eusi Migros, die hät eifach Schwung»

Es ist das Jahr 1975, die Migros wurde gerade 50 Jahre alt. Eine Familie aus dem Kanton Zürich trägt das Lied, das sie geschrieben hat, voller Inbrunst vor. Sie hat das Lied auf eigene Faust komponiert. Der Migros gefällt es so sehr, dass sie es kurzerhand zum Geburtstagssong macht.

Der Migros-Gründer ist da bereits 13 Jahre tot, ein runder Mann mit Melone, der manchmal die Beherrschung verlor, wenn er Unrecht spürte. Ein umtriebiger Mann, der sich in vielem versuchte und die Leute mit seinen Ideen immer wieder überraschte. Er blieb ohne Nachkommen, vielleicht schenkte er die Migros auch deshalb den Menschen.

Das hat lange gut funktioniert. Die Migros wächst und wächst und wächst. Irgendwann ist sie so mächtig wie kaum ein anderes Unternehmen im Land. Nirgendwo sind mehr Menschen beschäftigt. Die Leute arbeiten gerne für die Migros. Sie zahlt die Löhne zuverlässig, wer einmal angestellt worden ist, darf bleiben, jahrzehntelang.

Im Jahre 2024, 99 Jahre nach der Gründung der Migros, ändert sich alles von einem Tag auf den anderen. Den Menschen wird verkündet, dass es der Migros schlechtgehe. So schlecht, dass sie vieles, was sie getan habe, so schnell wie möglich beenden müsse. Sie müsse sich von Tochterunternehmen trennen und vor allem, das erstaunt die Menschen am meisten, Angestellte entlassen. Jeder und jede Zehnte werde bald nicht mehr für die Migros arbeiten, sie werde um die Grösse einer Kleinstadt schrumpfen.

Die Menschen sind aufgebracht. Was ist mit ihrer Migros geschehen? Was für Fehler hat sie begangen, dass sie nun mit solcher Hast solch radikale Schritte unternehmen muss? Und tragen sie selbst vielleicht gar Schuld daran?

Problem 1: Eine schlechte Unternehmerin

Der Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler hatte keine Kinder, die sein Erbe weiterführen konnten – geschweige denn, es in eine neue Zeit führen würden. Aber es gibt einen Mann, dem eine ähnlich komplexe Aufgabe anvertraut worden war.

Philippe Gaydoul geht schnell durch ein Zürcher Altstadthaus, setzt sich in einen violett-samtigen Sessel und sagt: «Schiessen Sie los.»

Gaydoul war von 2001 bis Ende 2009 Chef der Discountkette Denner, er hat die Migros viele Jahre beobachtet. Denner war zwar keine direkte Konkurrenz, zu unterschiedlich die Konzepte: hier der Supermarktgigant mit mehreren zehntausend Produkten, dort die Billigkette mit knapp 2000 Artikeln.

Für Gaydoul war schon damals klar: Die Migros hatte sich selbst verraten. Er sagt: «Der Anfang vom Ende der Migros war vor etwas mehr als 20 Jahren. Da hat die Migros Markenartikel ins Sortiment aufgenommen und ihr wichtigstes Gut aufgegeben: ihre Unvergleichbarkeit.»

Gaydouls Grossvater Karl Schweri hatte ihm 2001 die Denner-Führung übergeben. Schweri hatte Denner zum grössten Discounter der Schweiz gemacht. Er war, wie Dutti, eine öffentliche Figur, politisch aktiv, ein Kämpfer für die Konsumenten, der selbsternannte Robin Hood des Detailhandels. Dutti und Schweri kannten sich nicht gut. Doch Gaydoul sagt: «Mein Grossvater hatte nicht vor vielen Menschen Respekt, aber er hatte grossen Respekt vor Gottlieb Duttweiler. Es war klar: Zur Migros schaute man auf.»

Schweri und Duttweiler waren beide Unternehmer mit einer grösseren Idee. Sie kämpften für den einfachen Kunden, möglichst tiefe Preise sollten möglichst vielen Menschen Wohlstand ermöglichen. Schweri verkaufte seit 1967 Markenartikel zu Discountpreisen. Duttweiler Eigenmarken, die er in eigenen Fabriken herstellen liess, weil die Markenhersteller ihn nicht beliefern wollten.

Anfang der nuller Jahre entschieden die Migros-Chefs plötzlich, Markenartikel wie Elmex oder Evian ins Sortiment aufzunehmen. Gaydoul beobachtete das interessiert. Es bestätigte ihm, was er immer vermutet hatte – dass die Migros nie wirklich günstiger gewesen war: «Bis dahin hatten die Leute dies immer geglaubt, weil die Migros ihre Eigenmarken hatte. Als sie dann ebenfalls Evian ins Regal stellte, konnte man die Preise plötzlich vergleichen: Wieso war Evian bei der Migros teurer als bei Denner?»

Viele Kritiker beklagten damals den Verrat an Duttis Erbe. Für Gaydoul war es mehr als das: eine unternehmerische Fehleinschätzung.

Dass die Migros-Führung damals wirklich davon überzeugt war, ihre Kunden würden zwischen Zweifel-Chips und Migros-Chips auswählen wollen, bezweifelt er: «Die monatlichen Auswertungen aller Detailhändler auf Waren- und Artikelgruppen hatten gezeigt: Es gab absolut keine Notwendigkeit, das Sortiment durch Markenartikel zu ergänzen. Die einzige Ausnahme: Coca-Cola.»

Gaydoul war auch geprägt von der eigenen Geschichte. Er hatte bei seinem Grossvater erlebt, was passieren kann, wenn man das Konzept eines Unternehmens verwässert. Als Gaydoul Denner übernahm, steckte der Discounter in der Krise. Das Sortiment war für einen Discounter viel zu stark gewachsen, die Kosten waren dadurch gestiegen, Denner hatte die Preisführerschaft – und damit sein Alleinstellungsmerkmal – verloren. Zugleich verkamen die Läden. Gaydoul renovierte die Läden, reduzierte das Sortiment. Er hatte eine Regel: «Für jedes Produkt, das neu reinkommt, muss eines raus.» Gaydoul wusste: Discount ist ein knallhartes Geschäft. «Discount ist eine Disziplin.»

Gaydoul handelte auch aus finanziellem Druck. Der war bei der Migros in diesen Jahren nicht gegeben. «Die Migros war überheblich geworden und glaubte, ihr könne nichts passieren», sagt Gaydoul heute.

Wem nichts passieren kann, der kann auch ausprobieren. Die Migros probierte viel. Immerhin lag das in ihrer DNA. Duttweiler selbst hatte wilde Abenteuer gestartet. Vor dem Zweiten Weltkrieg ging er nach Berlin und gründete ein Handelsgeschäft mit Verkaufswagen – ähnlich wie er 1925 die Migros in der Schweiz gestartet hatte. Doch dieses Mal funktionierte es nicht. Hitlers NSDAP schikanierte nichtdeutsche Unternehmen wie die Migros. 1933, nach weniger als zwei Jahren, war der Traum geplatzt. Die Lust auf Expansion aber blieb.

Dutti versuchte sich im Taxibusiness, kaufte sogar einmal Schiffe. Was bei den Expansionen aber immer zentral war: Die Migros folgte einer grösseren Idee. Als Dutti Hotelplan, Ex Libris oder die Klubschulen gründete, ging es darum, der Bevölkerung günstige Reisen, Bildung und Bücher anzubieten. Später entschied die Migros-Führung, auch Sportartikel, Elektronikwaren oder Möbel zu verkaufen. Doch irgendwann wirkte es so, als ob die Migros einfach auch noch einen Teil des Kuchens einer neuen Branche sichern wollte.

Geld für die unternehmerischen Experimente war vorhanden, weil die Migros den Gewinn nicht an Aktionäre ausschütten musste. Also kaufte sie in den neunziger Jahren ein Luxuswarenhaus wie Globus. Richtig wild und unkoordiniert investierte sie dann in den nuller und zehner Jahren: 2007 kaufte man die Fitnesskette Activ Fitness, 2009 den Dekorationsartikelverkäufer Depot, 2010 die Arztpraxiskette Medbase, 2010 Ryffel, einen Joggingschuhverkäufer, 2012 eine erste Tranche des Onlinehändlers Digitec-Galaxus (später dann weitere Anteile), 2012 die deutsche Detailhandelskette Tegut, 2014 den amerikanischen Süssigkeitenhersteller Sweetworks.

Disziplin? Wer es gut meint, nennt es Trial-and-Error-Startup-Mentalität. Im Rückblick entpuppte es sich als schlechtes Unternehmertum.

Nur logisch, stellte die Migros viele Tochterfirmen, die sich nicht direkt mit dem Migros-Gedanken verbinden liessen, nicht stolz unter das orange M, sondern hielt sie vielmehr davon fern. Bei Marken wie Globus sei penibel darauf geachtet worden, dass sie nicht mit der Migros in Verbindung stünden, sagt eine ehemalige Kaderperson. «Wir sagten immer: Die Leute müssen gar nicht wissen, ob das die Migros ist.»

Die Migros betrieb viele der zugekauften Firmen nie erfolgreich. Vor sechs Jahren begann sie zahlreiche Zukäufe wieder abzustossen. Weil sie zusammengekauft hat, was nicht zusammengehört? Der Ex-Denner-Chef Gaydoul verneint: «Wenn die Migros ein Unternehmen kaufte, hat sie es einfach wie ein Stiefkind behandelt. Wenn Coop etwas gekauft hat, wurde dieses Unternehmen Teil der Coop-Familie. »

Philippe Gaydoul ist sich bewusst, dass er sich mit seinen Analysen ein Stück weit aus dem Fenster lehnt. Schliesslich wurde Denner selbst ein Teil des Migros-Universums. 2007 verkaufte Gaydoul 70 Prozent seines Unternehmens an die Migros. Aldi und Lidl drängten in die Schweiz, und Gaydoul war klar: «Wenn zwei grosse deutsche Konkurrenten in den Schweizer Markt eintreten, bin ich als Familienunternehmer aufgefordert, meiner Familie Optionen aufzuzeigen.»

Ausgerechnet die Migros, die Gaydoul so kritisch beobachtet hatte? «Es gab keinen sichereren Arbeitgeber im Land. Ich wusste: Die stellen nicht die Hälfte der Leute vor die Tür, denn die Migros war trotz allem grundsolide.»

Gaydoul blieb drei Jahre als CEO von Denner an Bord, aber: «Mein Name war fortan ein Reizwort im Migros-Universum. Jede Woche im Umsatzvergleich sah man: Denner legt deutlich mehr zu als die Migros. Unsere Personalkosten waren zwischen 4,5 und 5 Prozent, bei der Migros 15 Prozent. Vorher hatten sie diesen Vergleich noch nie so auf dem Tisch. Nun sahen sie plötzlich alles schwarz auf weiss.»

Gleichzeitig habe die Migros überall Geld ausgegeben, bloss nicht in ihrem Kerngeschäft, den Supermärkten. «Die Migros hat sich wenig um ihre Läden gekümmert. Sie hat zwar neue Filialen gebaut, aber die alten hat sie vor sich hingammeln lassen», sagt Gaydoul.

Wenn Gaydoul solch harte Urteile fällt, spricht aus ihm auch ein Migros-Fan: «Mir tut leid, was derzeit passiert. Ich finde trotz allem, dass die Migros zu den coolsten Brands des Landes gehört.»

Die Migros war lange die beste Unternehmerin der Schweiz, weil sie in vielem die Erste war. Heute ist sie das Unternehmen, das Chancen verpasst hat. Da ist zum Beispiel die Sache mit den Daten. 1997, noch bevor Google und Facebook gegründet wurden, startete die Migros ihr Kundenbindungsprogramm namens Cumulus. «Die Migros hatte damals schon einen Datenschatz. Was wurde damit gemacht? Nichts. Die Amerikaner mussten uns später erklären, wie wichtig Daten sind», sagt Gaydoul. Verbessert hat sich das seither nur begrenzt. Ein ehemaliger IT-Mitarbeiter der Migros klagt: «Wenn ich, längst pensioniert und Vater von erwachsenen Kindern, noch immer Gutscheine für Windeln bekomme – dann werten sie diese Daten doch einfach nicht aus.»

Oder die Sache mit Bio. Bereits in den achtziger Jahren soll eine Kaderperson in der Migros-Industrie mit Bioprodukten experimentiert haben. Die Führung habe sie zurückgepfiffen. Stattdessen machte Coop Bioprodukte zum Teil seines Markenkerns.

Bis Mitte der nuller Jahre waren unternehmerische Fehler zumindest im Kerngeschäft nicht verheerend. Coop holte zwar langsam und stetig auf. Aber die Migros war gut und doch immer etwas günstiger. Wer hätte ihr gefährlich werden können?

Inzwischen teilen sich die beiden Riesen Migros und Coop das Feld mit Discountern wie Aldi und Lidl. Ein ehemaliger Migros-Filialleiter sagt: «Am Anfang haben wir verächtlich auf die deutsche Konkurrenz geblickt und sind davon ausgegangen, dass die gegen den Platzhirsch ohnehin keine Chance haben. Inzwischen sehen wir: Die sind mehr als konkurrenzfähig. Sie sind inzwischen sogar lokal verankert.» Auch Aldi und Lidl haben heute Biolinien, bieten Früchte und Gemüse aus der Region an.

Was mit Aldi und Lidl klarwurde: Günstig zu sein, reicht nicht mehr. Es braucht mehr. Die Geschichte, eine gute Geschichte. Zum Glück hatte die Migros das. Noch.

Problem 2: Die Migros hat die Kontrolle über ihre Geschichte verloren

Vor ein paar Wochen, als der Migros-Chef Mario Irminger versuchte, den Journalisten zu erklären, wie er vorhat, die Migros wieder auf Wachstumskurs zu bringen, geschah etwas, das für die Migros von heute typisch ist. Kurz nachdem er verkündet hatte, man suche noch einen Käufer, der die Fachmarktkette Melectronics komplett übernehme, schrieb der «Tages-Anzeiger»: «Migros Aare schliesst M-Electronics-Filialen offenbar im Alleingang.»

Wäre ihr das auch passiert? Wenn man Monica Glisenti die Frage stellt, lächelt sie und schweigt eine Weile; das ist ihre Art, eine Antwort zu geben. Natürlich sagt sie dann doch noch etwas, «die machen wieder, was sie wollen», nachsichtig, als ob eine Mutter über ihre schwer erziehbaren Kinder spricht.

17 Jahre lang war es Glisentis Aufgabe, genau solche Kommunikationspannen zu verhindern. Dem Migros-Universum eine Stimme zu geben, zu koordinieren und vor allem: zu antizipieren.

Natürlich beschäftigt sie die Frage noch, sie sagt zwar, sie leide nicht mit der Migros heute mit. Aber obwohl Glisenti seit sechs Jahren nicht mehr im Migros-Universum arbeitet, weiss sie immer noch über so vieles Bescheid, als ob sie an den Sitzungen dabei wäre. «Wenn irgendwo etwas Einschneidendes geschieht oder geschrieben wird, schicken mir 50 Leute E-Mails und SMS, auch Leute, die ich gar nicht kenne.»

Glisenti wurde 2001 Kommunikationschefin der Migros. Es war eine andere Zeit, anfangs gab es noch keine Social Media, die Internetblase war gerade geplatzt, aber ihr Job war trotzdem überwältigend. «200 Unternehmen, jedes mit eigenen Kommunikationsleuten, ein unkoordinierter Haufen»: Als Erstes schrieb Glisenti einen Leitfaden mit zehn Regeln: «Wir lügen nicht, Ironie ist verboten, Humor ist erlaubt.» Gesunden Menschenverstand nennt das Glisenti, die keine Ahnung von Unternehmenskommunikation hatte, als sie bei der Migros zu arbeiten begann.

Sie war zuvor Wirtschaftsjournalistin gewesen, und als Journalistin wusste sie: «Die Migros ist ein Love-Brand.» Keine Marke berührt die Schweizerinnen und Schweizer mehr als die Migros. Keine Marke steht mehr im Fokus von Gewerkschaften, NGO und Journalisten. Und keine Marke garantiert bessere Schlagzeilen.

Glisenti wusste deshalb auch: Kritische Artikel werden sich nicht verhindern lassen. Sie versuchte, das intern zu vermitteln. «Als ich anfing, zogen sie im Verwaltungsrat über Journalisten her, ich sagte: ‹Dieser kritische Blick von aussen ist wichtig für uns, reden wir lieber darüber, was hinter den negativen Schlagzeilen steckt.›» Ihre wichtigste Kommunikationsregel im Leitfaden war denn auch: «Wir kommunizieren schneller, als die Journalisten recherchieren.»

Was sie damit meinte: die Arbeit der Journalisten respektieren und diese zu Verbündeten machen. Glisenti wusste, dass sie das Material dafür hatte. Die Migros berührte die Schweizer ja auch, weil sie diese einzigartige Geschichte hat. Man musste diese einfach konsequent und immer wieder neu erzählen.

Die gute Geschichte ist einfach. Glisenti rattert sie einfach herunter: «Die Migros gehört zwei Millionen Menschen, ist eine vorbildliche Arbeitgeberin, hat die beste Pensionskasse, muss den Gewinn nicht maximieren, und das Geld, das sie verdient, investiert sie in noch bessere Produkte. Mit den Eigenmarken, in der Schweiz in eigenen Fabriken hergestellt und die Rohstoffe vor Ort eingekauft, kann sie die gesamte Lieferkette kontrollieren. Und einen Teil gibt sie über das Kulturprozent für gute Projekte zurück.»

Das war lange Zeit genug. Günstig und gut, und zwar für alle. Dann kamen Aldi und Lidl – und «günstig» reichte nicht mehr. «Gut» wurde wichtiger.

Glisenti setzt «gut» mit «gutem Gewissen» gleich. «Ich habe keine Lust, mir immer zu überlegen, ob der Fisch aus dem Antibiotikateich kommt oder ob beim Bio beschissen wird. Ich will blind vertrauen können.» Bei der Migros muss man nicht zweifeln, das war Glisentis Kommunikationsversprechen. Eine Weiterentwicklung der guten Geschichte von guten Produkten.

«Ich habe viele Reisen gemacht, Journalisten mitgenommen. Wir hatten drei Titelgeschichten im ‹Magazin› des ‹Tages-Anzeigers›, ausserdem Titelgeschichten in der ‹Schweizer Illustrierten›. Korrekt produzierte Spielwaren aus China, ökologische Bananen aus Kolumbien oder wie die Migros als erste Händlerin weltweit das ganze Fischsortiment auf Nachhaltigkeit umgestellt hat. Als mir das Marketing gesagt hat, auch der Büchsen-Thunfisch werde künftig von Hand mit der Angel gefischt, habe ich gesagt: ‹Unmöglich, so ein Quatsch.› Also bin ich mit zwei Journalistinnen von ‹10 vor 10› und der ‹Schweizer Illustrierten› auf die Malediven und hab mir das selbst angeschaut.»

Als Glisenti im Jahr 2018 ging, galt die Migros als nachhaltigste Detailhändlerin der Schweiz. Eine Vorreiterin, die den kommenden Generationen Versprechen abgab. WWF und Greenpeace waren von Kritikern zu Verbündeten geworden.

Zürich, Anfang Juni. Im Migros-Hochhaus im dreizehnten Stock empfängt in einem Sitzungszimmer der Mann, der vor ein paar Monaten mit einem Interview für, um es wohlwollend zu sagen, Aufsehen gesorgt hat. Christopher Rohrer ist seit Anfang Jahr Nachhaltigkeitschef der Migros, zuvor war er fast 14 Jahre lang Nachhaltigkeitschef bei Denner.

Rohrer ist immer noch erstaunt, wie man seine Aussagen im «Sonntags-Blick» aufgefasst hat. Und wie das Interview danach weitergedreht wurde. «Migros opfert Teil seiner DNA», «Migros-Führung sagt sich los von grüner Vorreiterrolle», «Preis statt Nachhaltigkeit: Migros ändert Strategie», «Migros will nicht mehr ‹nachhaltigste Detailhändlerin der Welt› sein», lauteten die Schlagzeilen.

Rohrer sagt: «Ich wurde falsch interpretiert.»

Im Interview mit dem «Sonntags-Blick» steht als Aussage von Christopher Rohrer: «Die Nachhaltigkeit wird im klassischen Marketing weniger Platz erhalten, stattdessen heben wir dort vermehrt unsere Preisvorteile hervor.» Und: «Netto-Null bis 2050 zum Beispiel hat Migros bereits vor Jahren als Ziel definiert, heute schreiben sich das fast alle auf die Fahne. Es ergibt deshalb wenig Sinn, in diesem Bereich weiterhin eine Vorreiterrolle zu übernehmen.»

Rohrer verteidigt sich energisch, wenn man ihn darauf anspricht. «Wir haben ja noch gar keine neue Nachhaltigkeitsstrategie verabschiedet», sagt er. Er habe ja noch viel mehr gesagt im Interview. Vor allem werde das falsch verstanden. Rohrer will nicht weniger, sondern mehr Nachhaltigkeit. Wirkungsvollere Massnahmen statt Dinge, die zwar gute PR ergeben, aber vielleicht gar nicht so wirkungsvoll sind. Schliesslich sei die soziale und ökologische Verantwortung in der DNA der Migros fest verankert. «Deshalb wird die Migros in der Nachhaltigkeit immer eine führende Rolle haben.»

Man ist gewillt, Rohrer zu glauben. Christopher Rohrer erzählt, wie er vor fünf Jahren mit einem Professor redete und der ihm sagte, ach ja, Nachhaltigkeit, das habe er in seinem Marketinglehrgang auch einmal gemacht. «Aber das ist falsch, Nachhaltigkeit darf kein Marketingprofilierungsthema sein, wir haben eine Klimakrise, eine Wasserkrise, eine Biodiversitätskrise. Es geht nicht um Show.»

Rohrer hatte bei Denner den Auftrag, Nachhaltigkeit überall im Unternehmen zu verankern – ohne damit zu werben. Weil Denner-Kunden nicht bereit seien, mehr dafür zu bezahlen. «Auch bei Denner will niemand Kinderarbeit in Produkten oder Umweltzerstörung, aber die Bereitschaft für höhere Preise ist geringer.» Vielleicht machte das die Nachhaltigkeitsbemühungen Denners ehrlicher, aber bei der Migros wirkt es so, als ob in Zukunft eine Denner-Strategie verfolgt würde. Und diese gilt in der Öffentlichkeit nun einmal als nicht besonders nachhaltig.

Es ist eine verzwickte Situation für Rohrer. Wie macht man etwas besser, was vorher überall als vorbildlich galt? Was vielleicht gar nicht so perfekt war, aber die Grundlage bildete für die gute Geschichte, die man sich über das Unternehmen erzählte?

Nicht nur Christopher Rohrer kämpft mit diesem Problem. Wobei man einräumen muss: Im Migros-Universum befindet man sich noch etwas in der Verdrängungsphase. Wer mit Verantwortlichen redet, hört oft: «Die Migros generiert halt Klicks, Sie kennen das als Journalist.» Nur: Das war immer so, negative Schlagzeilen gab es auch zu Glisentis Zeiten. Was nun anders ist: Die guten Schlagzeilen fehlen.

Stattdessen liest man von einem Genossenschaftschef, der jahrelang schlecht gewirtschaftet hat und nun, zur Belohnung, Verwaltungsratspräsident einer anderen Genossenschaft werden soll. Von Tochterunternehmen, die verkauft werden sollen, wobei deren Führung darüber nur wenige Wochen vorher informiert wird. Oder von Schwangeren, die entlassen werden. Ausgerechnet die soziale Migros schmeisst Schwangere raus?

Vielleicht mögen die einzelnen Massnahmen notwendig sein. Unvermeidliche, aber schmerzhafte Schritte, um zurück zum Unternehmertum zu finden, das schon länger verlorengegangen ist. Das zu erklären, wäre kommunikative Schwerstarbeit. Stattdessen machte der Medienchef der Migros Schlagzeilen, weil er dem «Blick» wegen dessen negativer Migros-Berichterstattung mit einem Inseratestopp gedroht haben soll.

Monica Glisenti sagt: «Das Image einer Marke ist die Summe aller Informationen, die ich als Konsument habe. Nicht nur das Einkaufserlebnis, auch was du liest, was du siehst. Eine schlechte Schlagzeile ist nicht schlimm, aber wenn du nur noch negative Schlagzeilen hast, in Zeiten von Entlassungen statt von Strategieausführung von Exekution sprichst und in abgedroschenen PR-Floskeln redest, erodiert das Vertrauen. Es entsteht der Eindruck, Totengräber seien am Werk . . .»

Nur noch negative Schlagzeilen, der Verlust der guten Geschichte – das ist nicht einfach nur schlechte PR. Sie zeugen von einem tiefergehenden Problem. Von etwas, das Glisenti und ihr Team in den Jahren zuvor vielleicht einfach mit viel Geschick und Charme überdeckt haben. Etwas, das nun offen zutage tritt.

Problem 3: Duttis Erbe wurde zur Last

Die Migros war einst das modernste Unternehmen der Schweiz. Heute ist sie eigentlich keines mehr. Wer die Migros als Unternehmen zu verstehen versucht, kommt nicht weiter. Es gibt zahlreiche Metaphern, die die Migros besser beschreiben. Sie ist eine Art Staat im Staat, eine Parallelwelt, aufgebaut und funktionierend wie die Kantönlischweiz.

Gestartet ist die Migros 1925 als banale Aktiengesellschaft, 1942 wandelt Gottlieb Duttweiler sie um, er «schenkt sie den Leuten». Das heisst: Er macht sie zu einer Genossenschaft. 75 000 Anteilscheine zu 30 Franken gehen an Migros-Kunden, die damit zu den Eigentümern werden. Jede Region hat eine eigene Genossenschaft, in der Mitte ruht eine Zentrale. Die Genossenschafter wählen aus ihren Reihen eine Art Migros-Politiker in die Genossenschaftsräte, im Schweizer Bundesstaat die Kantonsregierungen, und aus diesen wiederum werden Delegierte in die Delegiertenversammlung, den Nationalrat, entsendet.

Soweit die Theorie.

Das Konstrukt ist modern. Frauen dürfen, anders als in der Eidgenossenschaft zu jener Zeit, nicht nur wählen, sie können auch gewählt werden. Und: Dutti verfügt, dass in den Genossenschaftsräten mehr als die Hälfte Frauen sein müssen.

Mehr als zwei Millionen Genossenschafter sind es heute. Auf migros.ch wird man mit wenigen Klicks Teilhaber des Unternehmens. Blitzschnell ist man beschenkt mit einem Anteilschein von 10 Franken, doch ebenso schnell haben die Genossenschafter vergessen, dass ihnen die Migros tatsächlich gehört.

Dabei hatte Dutti den Genossenschaftern grosse Verantwortung aufgebürdet. Sie sind, analog zu Aktionären, diejenigen, die letztlich die Jahresrechnung abnehmen (und dafür auch verstehen) müssen, die die Regionalparlamente besetzen dürften und sogar mittels Initiativen die Migros mitgestalten könnten. Nur: Welcher Genossenschafter ist schon so engagiert?

Den Migros-Chefs kommt das gelegen. 2004 fragt die «Wochenzeitung» den damaligen Migros-CEO Anton Scherrer, ob die Konkurrenz ihn darum beneide, dass er keinen Shareholdern Rechenschaft ablegen müsse. Scherrer leugnet gar nicht, dass die Kontrolle gering sei, sondern betont den Vorteil: «Insofern als wir längerfristig denken können, ja. Aber in Ruhe arbeiten können wir auch nicht: Der Konsument kontrolliert uns scharf und bestraft uns für Fehler an der Ladenkasse.»

Pierre Rappazzo gründete Anfang der nuller Jahre den Verein Sorgim, der die Genossenschaftsidee der Migros wieder beleben wollte. Er hatte in den neunziger Jahren einen Onlineshop mit Migros-Produkten gegründet – woraufhin die Migros mit einer Klage drohte. Rappazzo verkaufte seinen Laden an Coop, es war die Geburtsstunde von coop-online.ch. Für Rappazzo war es der Moment, in dem er erkannt zu haben glaubte, dass die Migros ihre eigenen Werte zu verraten begann. Er sammelte Stimmen, um mit eigenen Kandidaten in den Genossenschaftsräten Einfluss zu nehmen. Und er erkannte, dass die Genossenschaftsdemokratie längst zum Papiertiger verkommen war.

Pierre Rappazzo erinnert sich, dass man für die Genossenschaft Zürich 3000 Genossenschafter gebraucht hätte, die mit ihrer Genossenschaftsnummer eine Wahlliste hätten unterzeichnen müssen. 3000 Leute zu finden, die unterzeichnen, wäre zwar möglich gewesen. «Aber wer läuft denn auf der Strasse mit seiner Genossenschaftsnummer herum?»

Rappazzo blieb noch eine Weile mit dem Verein aktiv, 2011 stellte er die Vereinsarbeit ein. Heute sagt er: «Die Zeit wäre reif für ein neues Sorgim.» Doch der Glaube an den Erfolg fehlt ihm. Die Genossenschafter hätten es verpasst, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Viele fänden: Die Migros läuft ja, was soll ich mich da einmischen. «Duttweiler gab ihnen die Aufgabe, eine grossartige Idee weiterzuführen. Ich denke, Dutti hätte die Migros besser den Mitarbeitern geschenkt, die hätten sich mehr für ihr Unternehmen interessiert.»

Die Struktur, so wie sie Dutti einst entwarf, hat für die Migros lange Vorteile gebracht. Dass die regionalen Genossenschaften die Supermärkte betreiben und eigene Unternehmen mit eigener Führung sind, soll sie näher zum Kunden und zu den Produzenten bringen. Wer weiss besser als der Verkäufer aus der Region, wann seine Kunden welche Aktionen wünschen, wer kennt die regionalen Spezialitäten genauer als der Regionalgenossenschaftsleiter? Sicher nicht die Zentrale in Zürich.

Dutti kopierte mit der Migros den Schweizer Föderalismus, der darauf vertraut, dass die Kantonsregierung ihre Bevölkerung besser kennt und dadurch womöglich effizienter arbeitet. Ineffizient wird das System, wenn gewisse Aufgaben so gross und komplex werden, dass es günstiger wäre, wenn eine zentrale Organisation sie für alle Kantone oder alle Genossenschaften erledigen könnte.

Marketing, Einkauf und ähnliche Aufgaben hat die Migros früh in den zentralen Migros-Genossenschafts-Bund (MGB), eine Art Konzernmutter, ausgegliedert. Aber diese Muttergesellschaft gehört wiederum den Regionalgenossenschaften, und in der Leitung sitzen die Regionalchefs. Die Konsequenz: Wenn einer der Regionalchefs selbst Marketing betreiben will, eigene Lastwagenflotten aufbauen möchte oder ein anderes IT-System wünscht als seine Nachbarsgenossenschaft, gibt es niemanden, der ihm das verbieten kann.

Markus Zyka arbeitete fast 30 Jahre bei der Genossenschaft Migros Zürich in der IT, baute unter anderem Warenwirtschaftssysteme und die Logistik für die Convenience-Läden mit auf. Dazwischen war er kurze Zeit bei Denner und Coop. Vor gut zwei Jahren wurde Zyka pensioniert.

Zyka erzählt, wie man sich das vorstellen muss: «Als man in den 1990er Jahren Cumulus eingeführt hat oder als die Mehrwertsteuer kam, da haben zwölf Genossenschaften zwölf Mal alles angepasst in der IT, weil alle unterschiedliche Systeme hatten.»

Die Struktur Duttweilers wird mit dem Aufkommen von Computern plötzlich unglaublich teuer und ineffizient. Dass niemand niemandem wirklich befehlen kann, führt zu weiteren Absurditäten.

Die verschiedenen Regionalgenossenschaften kaufen sich mit der Zeit eigene Tochterunternehmen hinzu. Wenn diese über ihre jeweilige Region hinaus aktiv sind, wird das zum Problem. Als die Migros Zürich zum Beispiel in Kooperation mit Alnatura Alnatura-Filialen in Luzern, der Ostschweiz und der Aareregion habe eröffnen wollen, habe das sogenannte Gebietsfreigaben erfordert, erzählt der ITler Zyka. «Da arbeiteten auf den Gebieten der fremden Genossenschaften unsere Mitarbeiter aus Zürich, unsere Systeme und unsere Logistik», sagt er stolz. Aus ähnlichem Grund habe Alnatura aber in der Westschweiz noch nicht Fuss gefasst. Die Logistik und das Marketing der Regionalgenossenschaft Zürich seien nicht auf die Westschweiz ausgerichtet.

Und dann sind da Doppelspurigkeiten. Wobei: «Man kann hier nicht von Doppelspurigkeiten sprechen, es sind regelrechte Multiplikationen», erzählt eine ehemalige Migros-Mitarbeiterin: «Fast jede Regionalgenossenschaft hat ein eigenes Rezept für die Schwarzwäldertorte. Einmal ist die Kirsche oben, dann wieder dazwischen. Jedes Customizing kostet Geld, es führt zu sehr hohen Kosten in der Industrie.» Zwölf Rezepte für einen Kuchen wären zumindest einfach zu vereinheitlichen. Aber die Schwarzwäldertorte sei nur eine Metapher, sagt die Ex-Mitarbeiterin: «Da gibt es zehn Marketingabteilungen, zehn Einkaufsabteilungen. Jede Regionalgenossenschaft hat ihre eigene Lastwagenflotte, es gibt viele Leerfahrten. Wer die Migros retten will, muss hier ansetzen.»

Nur: Wer sollte das tun?

Der IT-Mann Zyka sagt: «Man kann nicht genau sagen, wer der Migros-Chef ist. Es gibt viele verschiedene, die Frage ist nicht zu beantworten. Die Macht ist komplett verteilt.»

Natürlich gäbe es die Zentrale. Aber ihr Chef Mario Irminger, der oft als Migros-CEO bezeichnet wird, ist eigentlich Angestellter der Regionalchefs. Das macht ihn zur seltsamsten Figur in der Schweizer Wirtschaft. Er ist kein König ohne Reich (auch die Zentrale hat Besitztümer, die sie alleine verantwortet wie Denner oder Digitec-Galaxus und die Migros-Fabriken), aber ein König ohne Macht über seine Provinzen. Doch wenn er geschickt handelt, kann er trotzdem die Richtung im Migros-Universum vorgeben. Gibt er Interviews, liest man sie in der Filiale in Graubünden wie eine Verlautbarung aus dem Bundeshaus in Bern – etwas, das im Reich die Stimmung prägen kann, aber auch ignoriert werden darf.

Bloss: Wenn die Verlautbarung denen in den Regionen/Graubünden nicht passt, können sie ungemütlich werden.

Markus Zyka, der in der IT-Abteilung der Regionalgenossenschaft Zürich und nicht in der Zentrale arbeitete, erzählt vom Groll der Regionalen auf die Zentralisten: «Die sind vielleicht topausgebildet, aber sie kommen von aussen. Der Genossenschaftsgedanke und die komplexe Struktur sagen ihnen nichts. Manchmal merkt man nicht einmal den Unterschied zwischen Migros-Angestellten und externen Beratern.»

Zyka sah es auch als seine Aufgabe, denen von der Zentrale zu erklären, wie die Migros funktioniert. «Wir haben ihnen eingebleut, dass sie uns als Genossenschaft nichts zu sagen haben.» Als er pensioniert wird, bleibt er auf Stundenlohnbasis im Migros-Universum aktiv. «Ich erhielt einen Stundenlohnvertrag für ein halbes Jahr. Mit Rückendeckung bis zum Genossenschaftsleiter machte ich nichts anderes, als gegen nicht umsetzbare Ideen und Vorhaben der Zentrale vorzugehen und mich für die Genossenschaften zu wehren.»

Wie soll man solch einen 30-Milliarden-Konzern reformieren?

Keine Lösung

 
Wenn ein Bundesrat oder ein grosser Wirtschaftsführer interviewt werden soll, schicken Zeitungen meist nicht einen, sondern zwei Journalisten. Als der Migros-Chef Mario Irminger Ende Juni die neue Migros erstmals richtig zu erklären versuchte, schickte die «Sonntags-Zeitung» drei.

Es war ein Interview, das so sehr an die eigenen Leute gerichtet war wie an die Öffentlichkeit. Da waren Eingeständnisse: «Aus heutiger Sicht können wir sagen, dass sich die Migros in der Vergangenheit verzettelt hat.» Und klare Ansagen: «Wir brauchen mehr günstige Produkte im Sortiment.» Denn: «Wenn die Menschen in der Schweiz in Rente gehen, sinkt ihre Kaufkraft um rund 30 Prozent im Vergleich zum letzten Lohn, den sie bezogen haben.» Und wie alle wissen: Die Schweiz wird älter, also muss sich die Migros anpassen.

Das Interview zeigte aber auch, wie schwer das alles werden würde, in der alten Struktur. Als die Journalisten Irminger nach den Fehlern der Regionalgenossenschaften, etwa der defizitären Fehlinvestition der Migros Zürich in Deutschland, fragten, verwies er sie kurzerhand an deren Chefs. Schliesslich kann er – ob Millionenverluste oder nicht – da gar nichts entscheiden.

Es gibt Leute im Migros-Universum, die der neuen Führungscrew zutrauen, dass sie die Strukturen aufbrechen kann. Ein erster Schritt war eine neue Supermarkt AG, die viele Aufgaben zentralisiert, die zuvor mehrfach in den Regionen, in der Industrie und im MGB erledigt wurden. Keine Fusion der Genossenschaften zwar, im Gegenteil, sie sind es sogar, die bei der Supermarkt AG das Sagen haben. Aber die Migros-Optimisten glauben: Der Schritt ist die letzte Chance für die Regionalfürsten. Wenn die Supermarkt AG scheitert, gibt es nichts mehr, was sie vor einer Fusion und Entmachtung bewahren wird.

Andere sagen: Selbst wenn diese Reform nicht gelingt – wer wollte den Regionalfürsten befehlen? Duttis Struktur wird sie selbst beim erneuten Scheitern beschützen.

Die Migros steht nicht kurz vor dem Untergang. Sie verfügt bei einem Jahresumsatz von 30 Milliarden über 22 Milliarden Franken Reserven. Das ist viel Geld. Aber die neue Migros sucht nicht Kapital, sondern eine neue Identität, ja eine Daseinsberechtigung.

Umso wichtiger ist die gute Geschichte. Oder anders gesagt: Eine Strategie ist noch keine grosse Idee. Die neue Migros soll sich «beim Preis in Richtung Discounter bewegen». Ein Discounter aber kann sie nicht sein, und für die Wohlhabenderen, die sich mehr Bio, mehr Luxus gönnen wollen, gibt es bereits Coop. Was bleibt der Migros dann?

Kein Märchen

Es ist das Jahr 2024, die Migros wird bald 100 Jahre alt. Die Menschen im Land sind irritiert, als das Unternehmen seine Pläne verkündet. Sie erzählen sich Geschichten von dem Unternehmen, wie es einst war. Und wie es vielleicht wieder einmal sein könnte.

Ein Mann erinnert sich, wie er einst als Student die Migros betreten hat. Wie da aus den Lautsprechern verkündet worden ist, dass das Unternehmen in diesem Jahr bisher zu viel Gewinn gemacht habe. Dass es daher in den nächsten Tagen alle Preise um 10 Prozent reduzieren werde.

Natürlich wissen die Menschen, dass sich die Welt verändert hat. Auf ihren Bildschirmen sehen sie sich das Video an, in dem die Familie 1975 die Migros besungen hat. Manche belustigt, manche wehmütig.

«Eusi Migros weiss, was si will
Eusi Migros, die staat nie still
Eusi Migros bliibt immer jung
Jo, eusi Migros, die hät eifach Schwung»

Michael Schilliger, Esthy Baumann-Rüdiger, «Neue Zürcher Zeitung»

Das könnte Sie auch interessieren: