Die Papierfabrik Perlen muss ihre Kunden immer weiter weg von der Schweiz suchen Der letzte Schweizer Hersteller von Zeitungspapier hält inzwischen selbst in der Türkei und in Indien Ausschau nach Abnehmern. Zugleich profitiert er davon, dass immer mehr Papierfabriken in Europa schliessen.

Der letzte Schweizer Hersteller von Zeitungspapier hält inzwischen selbst in der Türkei und in Indien Ausschau nach Abnehmern. Zugleich profitiert er davon, dass immer mehr Papierfabriken in Europa schliessen.

(Bild: JJ Ying auf Unsplash)

Es sind nicht mehr viele Bündel, die in Schweizer Strassen an den Sammeltagen darauf warten, von den Altpapier-Verwertern mitgenommen zu werden. Ein gänzlich anderes Bild zeigt sich beim Karton: Dort türmen sich die gebrauchten Verpackungen, wenn die Equipen vorbeikommen.

Schweizer Zeitungsmuffel

Herr und Frau Schweizer lassen sich zunehmend Waren nach Hause liefern. Der Online-Handel blüht. Doch Zeitungen, Zeitschriften und Prospekte, die früher für grosse Mengen von Altpapier sorgten, landen in immer weniger Haushalten. Wer überhaupt noch Zeitung liest, tut dies vor allem unter der Woche primär online.

Die Papierfabrik im luzernischen Perlen steht damit vor einem zweifachen Problem. Weil immer weniger auf Papier gelesen wird, bricht dem letzten verbliebenen Schweizer Hersteller von Zeitungspapier nicht nur der Absatz weg. Mangels Altpapier fehlt ihm hierzulande auch zunehmend sein wichtigster Rohstoff. Das Zeitungspapier, das der Traditionsbetrieb fertigt, besteht nämlich zu 80 Prozent aus Altpapier. Die restlichen 20 Prozent sind hauptsächlich Hackschnitzel, die als Abfälle in Sägewerken anfallen.

Waghalsige Investition in neue Papiermaschine

Weil Schweizer Altpapier knapp ist, muss die Papierfabrik zunehmend im Ausland nach dem begehrten Gut Ausschau halten. Dies hat zur Folge, dass immer häufiger auch deutsche Heftchen oder italienische Sportzeitungen verwertet werden. Doch nicht nur beim Altpapier sieht sich das Unternehmen gezwungen, eine Strategie der Internationalisierung zu verfolgen. Die Schweiz ist Perlen auch als Absatzland deutlich zu klein geworden.

Perlen nahm vor knapp 14 Jahren noch eine riesige neue Papiermaschine in Betrieb. Weil sich schon damals abzeichnete, dass sich die Nachfrage nach gedruckten Zeitungen und Zeitschriften im Zuge der Digitalisierung laufend verkleinern würde, war dies eine höchst riskante Investition. Doch das Management, das auf die Unterstützung eines treuen Ankeraktionärs (Angehörige der mittlerweile siebten Generation der Gründerfamilie) zählen kann, wagte den Schritt trotzdem. Aus heutiger Sicht war es wohl das einzig Richtige, denn anders als zahlreiche Papierfabriken in Europa, die in der Zwischenzeit wegen Überkapazitäten den Betrieb einstellten, hat Perlen bis heute überlebt.

Um die sogenannte Papiermaschine 7, die rund um die Uhr an sieben Tagen pro Woche läuft, auszulasten, ist das Unternehmen allerdings gezwungen, immer weiter von der Schweiz weg Kunden zu suchen. Neben den wenigen verbliebenen Schweizer Zeitungsdruckereien beliefert Perlen mittlerweile auch Abnehmer vorab in Deutschland, Italien und Frankreich. Deutschland hat mit einem Umsatzanteil von über einem Drittel die Schweiz als einst wichtigsten Absatzmarkt abgelöst. Auf den Heimmarkt entfallen noch knapp 20 Prozent der Verkäufe.

Geschäfte mit Italien

Der Papierhersteller profitiert davon, Lücken füllen zu können, die Konkurrenten durch Betriebsschliessungen hinterlassen. Solche ereignen sich in Europa mittlerweile beinahe quartalsweise, wenn nicht im Monatstakt. So gab Ende Mai der weltgrösste Hersteller von Zeitungsdruckpapier, der finnische Konzern UPM, bekannt, sein Werk in Hürth bei Köln stilllegen zu wollen. Die Fabrik verfügt mit 330 000 Tonnen Zeitungspapier pro Jahr über beinahe dieselbe Produktionskapazität wie Perlen mit 360 000 Tonnen.

Neben Deutschland hat sich für Perlen auch Italien zu einem bedeutenden Absatzmarkt entwickelt. Geschäfte mit italienischen Kunden tragen fast ein Viertel zum Umsatz bei. «Weil wir mittlerweile zu den am südlichsten gelegenen Herstellern von Papier für Presseprodukte in Europa gehören, bietet Italien für uns grosse Opportunitäten», sagt Peter Schildknecht, der Chef der neu gebildeten Perlen Industrieholding.

Am vergangenen Dienstag wurde die Abspaltung des Papiergeschäfts vollzogen, das zuvor eine von drei Sparten des kotierten Industriekonglomerats CPH Chemie + Papier Holding gebildet hatte. Nun besteht CPH nur noch aus den Bereichen Chemie und Verpackung, deren Aktivitäten sich in der Vergangenheit als deutlich weniger volatil erwiesen haben als das Papiergeschäft. Wer Anteile an der Perlen Industrieholding, zu der neben der Papierfabrik auch die Immobilien des weitläufigen Werkareals gehören, erwerben oder verkaufen will, kann dies nur noch ausserbörslich tun.

Hohe Transportkosten halten Konkurrenten auf Distanz

Für Perlen ist es mit Geschäften in den Nachbarländern indes nicht getan. Der Papierhersteller versucht mithilfe von Agenten auch Kunden in Spanien, den Benelux-Ländern, Grossbritannien, Polen, Skandinavien und sogar in Lateinamerika, China, Indien und in der Türkei zu gewinnen.

Obschon das Unternehmen laut eigenen Angaben einzelne Chargen auch schon in die Türkei und bis nach Indien geliefert hat, lohnt sich das Geschäft mit Papier auf grosse Distanzen kaum. Rollen mit Zeitungspapier wiegen gut und gerne eineinhalb bis zwei Tonnen. Je weiter entfernt die Abnehmer sind, desto mehr Transportkosten fallen an. Der Schweizer Papierproduzent profitiert denn auch selbst von einem gewissen Distanzschutz. Bis anhin seien kaum grosse Mengen von Zeitungs- oder Magazinpapier von Herstellern in aussereuropäischen Ländern in den Kernmärkten von Perlen in Mitteleuropa aufgetaucht, sagt Schildknecht.

Doch die gesamte Branche befindet sich seit rund 15 Jahren in einem Verdrängungskampf. Laut den Analysten der Helvetischen Bank ist die Nachfrage nach Zeitungsdruckpapier in Westeuropa seit 2008 jährlich um 6 bis 8 Prozent gesunken. Im vergangenen Jahr betrug der Einbruch sogar über 20 Prozent.

Der Absatzschwund zwingt sämtliche Hersteller, zu denen neben UPM unter anderem auch der norwegische Konzern Norske Skog und das deutsche Familienunternehmen Palm gehören, unablässig um die Gunst der Kundschaft zu buhlen. Dabei laufe der Wettbewerb, wie Schildknecht offen eingesteht, grösstenteils über den Preis.

Auf und Ab bei den Papierpreisen

Zugleich tendieren die Preise nicht ausschliesslich nach unten, sondern schwanken von Jahr zu Jahr stark. Das hat damit zu tun, dass Anbieter nach Jahren, in denen die Nachfrage besonders schwach ausgefallen ist, besonders viele Kapazitäten aus dem Markt nehmen. Jüngst war dies 2021 der Fall. Im Jahr zuvor, als nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie ein starker Konjunkturabschwung eingesetzt hatte, waren wegen des Wirtschaftseinbruchs kaum noch Zeitungsbeilagen und Prospekte gedruckt worden.

Nach dem Kapazitätsabbau 2021 schossen die Papierpreise 2022 prompt in die Höhe. Perlen verhalf dies zu einem Umsatzsprung von zwei Dritteln – auf über 380 Millionen Franken. Zugleich stieg die Ebit-Marge auf beinahe 20 Prozent, nachdem die Rechnung im Vorjahr mit einem Verlust abgeschlossen hatte. Im vergangenen Jahr akzentuierten sich in der Branche erneut die Überkapazitäten: Der Umsatz von Perlen glitt wegen sinkender Preise um fast einen Drittel auf 262 Millionen Franken zurück. Die Ebit-Marge fiel auf unter 12 Prozent.

Bei Perlen stellt man sich darauf ein, auch künftig in gewissen Jahren substanzielle Gewinne und in anderen Verluste zu erwirtschaften. Was zähle, sei die Entwicklung über den ganzen Zyklus, sagt der Firmenchef. Und diesbezüglich sei man zuversichtlich: «Wir können über den gesamten Zyklus weiterhin gutes Geld verdienen.»

Gedrucktes nicht nur für die Alten

Das Unternehmen vertraut darauf, dank seiner leistungsfähigen Papiermaschine 7 weiterhin zu den effizientesten Herstellern zu gehören. Auch ist man in Perlen davon überzeugt, weitere Marktanteile auf Kosten von Konkurrenten zu gewinnen, die Kapazitäten stilllegen. Laut Schildknecht versorgte das Unternehmen vor 15 Jahren erst 2 bis 3 Prozent des europäischen Absatzmarktes mit Zeitungsdruckpapier. Heute liege der Marktanteil bei 10 Prozent.

Und wie optimistisch ist man bei Perlen, dass gedruckte Zeitungen und Zeitschriften dereinst nicht doch ganz verschwinden werden? Schildknecht glaubt, dass sie trotz wachsenden digitalen Angeboten weiterhin existieren werden. Und dass sogar gewisse jüngere Leser darauf zurückgreifen werden. «Gedruckte Zeitungen und Zeitschriften sind nicht nur Produkte für die Alten.»
 
Dominik Feldges, «Neue Zürcher Zeitung»
 

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