In die Ferien mit der Excel-Tabelle: wie sich die Buchungsplattform Getyourguide die Zukunft des Reisens vorstellt Sightseeing in Venedig, Prag oder Barcelona wird ohne minuziöse Vorbereitung immer schwieriger. Und Spontaneität könnte teuer werden.
Sightseeing in Venedig, Prag oder Barcelona wird ohne minuziöse Vorbereitung immer schwieriger. Und Spontaneität könnte teuer werden.
Was bleibt von einer Reise? Unzählige Fotos, vielleicht ein Souvenir. Aber die Fotos verschwinden bald auf der Festplatte, und das Souvenir verstaubt im Regal. Nein, was von einer Reise wirklich bleibt, sind die Erlebnisse. Doch in Zeiten von Overtourism wollen die gut geplant sein.
Man nehme eine beliebige Grossstadt in Europa: Touristen in den Gassen, Touristen in den Kirchen, Touristen, so weit das Auge reicht. Spontane Restaurant- und Museumsbesuche sind in Städten wie Florenz, Prag oder Lissabon kaum mehr möglich. Darum muss vorsorgen, wer in seinen Ferien etwas erleben will.
Eine Ballonfahrt über die Mojave-Wüste in Las Vegas, eine Tangolektion über den Dächern von Barcelona, einen Busausflug ins Heidiland: Auf Getyourguide können Feriengäste ihre Aktivitäten, Touren und Sehenswürdigkeiten im Voraus buchen. Auf dem Reiseportal findet man alles, was sich die Tourismusbranche in jüngster Zeit hat einfallen lassen.
Es erstaunt kaum, dass aus dem Zürcher Startup innert weniger Jahre ein global tätiges Unternehmen geworden ist. Getyourguide profitiert vom Massentourismus, dessen ist sich auch CEO Johannes Reck bewusst. Er sagt: «Es ist eine Realität, dass Leute in diese Hotspots reisen wollen. Die Frage ist, wie wir das in Zukunft steuern können.»
Ein Projekt der ETH
Was heute als Reiseportal mit Büros in Paris, Tokio, Miami und an vierzehn weiteren Standorten aktiv ist, begann als Projekt von sechs ETH-Studenten. Die Idee war simpel, sie wollten eine Plattform entwickeln, auf der Unternehmen ihre Touren und Tickets anbieten können. Einnahmen erzielten die Studenten durch eine Vermittlungsprovision. Das war 2008. Heute ist Getyourguide noch immer in Zürich eingetragen, operativ arbeitet man aber längst aus Berlin.
Laut Johannes Reck präsentieren auf Getyourguide 30 000 Anbieter mehr als 150 000 Aktivitäten, Adrenalin-Junkies werden genauso fündig wie Kulturliebhaber. Und auch Nischenangebote lassen sich finden. Für 700 Franken gibt es etwa eine private Führung des obersten Schlüsselwarts durch die heiligen Hallen der Vatikanischen Museen.
Getyourguide veröffentlicht keine Umsatz- und Gewinnzahlen, doch in Deutschland gilt es als eines der wenigen Einhörner; ein Startup in privater Hand mit einer Marktbewertung von mehr als einer Milliarde US-Dollar.
Selbstverständlich ist das nicht, wie viele andere Reise-Startups traf die Pandemie auch Getyourguide hart. Vom einen auf den anderen Tag fielen 95 Prozent des Umsatzes weg. Ende 2020 musste jeder fünfte Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, eine Zeitlang bezahlten die Chefs ihr Personal mit Aktien statt mit Geld.
Die Pandemie als Glücksfall
Doch die Pandemie brachte auch einen Digitalisierungsschub. Museen und Veranstalter sahen sich gezwungen, ihre Online-Buchungs-Systeme auszubauen oder sie überhaupt erst einzuführen. Viele setzten auf Getyourguide: In Eigenregie hatte das Unternehmen ein Tool entwickelt, das Eintrittstickets nach spezifischen Zeit-Slots vergibt. Die Besucherströme sollten so besser verteilt werden können. Der Umsatz von Getyourguide hat sich seither vervierfacht.
Heute ist das System bei vielen Touristenattraktionen der Standard. Wer in Florenz nicht mehrere Stunden für Michelangelos David anstehen möchte, bucht im Voraus online ein Ticket; ohne anzustehen, dafür für eine definierte Uhrzeit. Je beliebter der Zeit-Slot, desto teurer der Eintritt. Sightseeing nach Stundenplan, sehen so die neuen Ferien aus?
CEO Johannes Reck sagt: «Wer die grossen Touristenattraktionen wie den Dogenpalast in Venedig oder die Uffizien in Florenz besuchen will, muss das heute im Voraus planen, oder er riskiert, draussen zu bleiben.» Spontaneität gebe es heute höchstens noch für Geduld oder Geld: Wer ohne Voranmeldung in einem Museum auftaucht, muss stundenlanges Warten oder einen höheren Eintrittspreis in Kauf nehmen.
Städte werden zu Museen
Der Tourismus boomt. In diesem Jahr werden laut Schätzungen des Marktforschungsunternehmens Euromonitor weltweit fast 400 Milliarden US-Dollar fürs Reisen ausgegeben. Auch der Schweizer Tourismus blickt einem Rekordsommer entgegen. Laut der Konjunkturforschungsstelle der ETH sollen es 100 000 Logiernächte mehr als im Vorjahr werden, als die Schweiz bereits einmal Rekordzahlen verzeichnet hatte.
Das spürt auch Getyourguide. Laut Reck ist das Unternehmen seit dem zweiten Halbjahr 2023 in Europa profitabel. Nun will man in die USA. Dafür investiert Getyourguide Millionen in Fernsehwerbung, lässt etwa Spots zur teuersten Sendezeit, während der Oscar-Verleihung, laufen.
Die Expansion nach Amerika hat auch neue Investoren angezogen, mit deren Geld die Zeit bis zu einem angedachten Börsengang überbrückt werden soll. Den hatte CEO Johannes Reck ursprünglich für dieses Jahr geplant und dann wieder abgesagt. Der Markt sei aktuell nicht geeignet, sagte Reck dem «Handelsblatt». Als privates Unternehmen habe man deutlich mehr Freiheit und bessere Wachstumsmöglichkeiten.
Die Massen verteilen
In Europa will Getyourguide das Problem des Massentourismus angehen, das Unternehmen versteht sich als «Teil der Lösung». Mit «Skip the Line»-Tickets und definierten Zeit-Slots für Attraktionen wolle Getyourguide helfen, die Touristenströme zu verteilen, sagt Reck. «Wir arbeiten auch mit Touristenorganisationen zusammen und versuchen, die Leute an weniger bekannte Orte zu locken.»
Doch was heute unbekannt ist, kann übermorgen schon zum Hotspot werden. So geschehen in Bali, Sardinien oder sogar im bernischen Iseltwald, wo Touristen seit letztem Jahr fünf Franken für ein Selfie bezahlen müssen. «Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet», schrieb auch schon der Dichter Hans Magnus Enzensberger.
Wer weiterhin in die bekannten Touristenstädte reisen will, muss sich anpassen, davon ist Johannes Reck überzeugt. Der österreichischen Ausgabe von «Forbes» hat Reck vor einigen Jahren verraten, dass auch er seine eigenen Ferien mittlerweile akribisch genau plane. «Wenn meine Frau, meine Kinder und ich in den Urlaub fahren, wird wochenlang vorher genau ausgetüftelt, was auf dem Plan steht, um wirklich auf halbstündiger Basis das Programm durchzutakten.» Mit der Excel-Tabelle in die Ferien – da kann man auch gleich im Büro bleiben.
Janique Weder, «Neue Zürcher Zeitung»