Zürich, nein danke: Immer mehr Unternehmen verlassen den Kanton Das Herz der Schweizer Wirtschaft blutet. Zürichs Nachbarn freuen sich.
Das Herz der Schweizer Wirtschaft blutet. Zürichs Nachbarn freuen sich.
Der Kanton Zürich kann zwei Migrationsgeschichten erzählen. Die erste handelt von der anhaltend hohen Zuwanderung von Arbeitnehmern, von Studenten und Flüchtlingen. Zürich bietet eine hohe Lebensqualität, entsprechend wächst die Bevölkerung seit Jahren.
In eine ganz andere Richtung entwickelt hat sich die zweite Migrationsgeschichte, jene der Unternehmen. Bei ihnen ist der Wanderungssaldo seit Jahren negativ. 2022 zum Beispiel haben 137 Firmen mehr den Kanton verlassen, als aus anderen Kantonen nach Zürich zugezogen sind. Dies hat eine Auswertung der Handelsregistereinträge gezeigt.
Die Aussagekraft dieser Zahlen ist jedoch beschränkt. Im Handelsregister steht nicht, ob hinter einer Sitzverlegung ein Unternehmen mit 5, mit 50 oder mit 500 Arbeitsplätzen steht. Unklar bleibt zudem, welche Branchen es trifft.
Nur in Einzelfällen gibt es zu einer Bewegung weitere Angaben, etwa wenn ein Unternehmen zu seiner Reorganisation öffentlich informiert. Gerade bei kleineren Betrieben und Firmen, die privat gehalten werden, ist dies aber üblicherweise nicht der Fall.
Hallo Aargau, hallo Thurgau
Die Datenlücke über Zu- und Abgänge wird nun mit einer neuen Auswertung geschlossen. Peter Moser, der frühere Leiter Analyse des Statistischen Amts des Kantons Zürich, hat in einem Beitrag für die Zürcher Handelskammer (ZHK) die Entwicklung der Unternehmensstruktur (Statent) für die Jahre 2012 bis 2021 untersucht.
Diese Datenbasis ist zwar nicht so up to date wie das tagesaktuell geführte Handelsregister, dafür enthält sie sehr genaue Angaben über die Bewegungen von Unternehmen und Arbeitsplätzen. Die anonymisierten Daten basieren auf Registern der AHV-Ausgleichskassen.
Der Statistik-Experte Moser hat die folgenden zentralen Erkenntnisse für den Kanton Zürich abgeleitet:
- Der Wanderungssaldo bei den Unternehmen ist seit Jahren negativ: Im Mittel zogen im Zeitraum von 2012 bis 2021 jährlich 572 Betriebe aus dem Kanton Zürich weg, aber nur 456 zogen in den Kanton.
- Im jährlichen Schnitt gingen 1585 Stellen verloren, bloss 1388 wurden durch Zuzüge aus anderen Kantonen gewonnen (Zahlen auf Vollzeit umgerechnet).
- Als Zielkantone von Zürcher Betrieben haben speziell der Aargau und der Thurgau an Bedeutung gewonnen.
- Finanzdienstleister ziehen besonders gern nach Zug und Schwyz.
- Insgesamt finden 70 Prozent der Zu- und Abwanderungen zwischen Zürich und seinen Nachbarkantonen statt. Nur 30 Prozent entfallen auf die übrigen Kantone.
Moser betont in seinem Artikel, dass die Relationen im Auge zu behalten seien. Im ganzen Kanton Zürich gebe es rund 1,1 Millionen Stellen. Die betroffenen Betriebe seien meistens klein, mit etwa 3 Vollzeitstellen. Manchmal handle es sich schlicht um Einzelunternehmen, die gemeinsam mit einem Umzug ihres Inhabers ihren Sitz verlegten. Nur jeder 20. Betrieb, der verlegt werde, beschäftige mehr als 10 Vollzeitangestellte.
Die Bewegungen sind im Einzelfall also nicht besonders gross, aber sie sind stetig, und sie addieren sich. In der Finanzindustrie sind im ganzen Jahrzehnt laut Moser 126 Betriebe mit 367 Vollzeitstellen aus dem Kanton Zürich nach Zug gezogen. In der Gegenrichtung unterwegs waren 106 Betriebe mit 273 Stellen.
Gerade die langfristige und branchenübergreifende Analyse zeigt für Zürich einen beunruhigenden Trend: In jedem einzelnen Jahr sind mehr Unternehmen – und fast in jedem Jahr mehr Jobs – aus dem Kanton Zürich in andere Kantone verlegt worden als umgekehrt.
Dazu kämen Faktoren, die in keiner Statistik je auftauchten, die für die Volkswirtschaft aber sehr wohl ausschlaggebend seien, sagt Peter Moser im Gespräch mit der NZZ. «Zum Beispiel Firmen, die sich gar nicht erst dazu entscheiden, in den Kanton Zürich zu kommen.» Oder Netzwerkeffekte: Wenn sich am gleichen Ort mehrere Unternehmen aus der gleichen Branche versammeln, dann zieht das weitere Firmen an.
Im Aargau ist der Boden günstiger
Die grosse Frage ist, warum Unternehmen überhaupt ihre Betriebe und Arbeitsplätze verlegen. Antworten darauf finden sich weder im Handelsregister noch in den Firmenstatistiken des Bundes.
Es gibt aber indirekte Hinweise. In Mosers Auswertung zeigt sich zum Beispiel, dass Zürcher Industrie-, Bau- und Logistikbetriebe mit Teilen ihrer Unternehmen besonders gerne in den Aargau ziehen. Moser vermutet, dass dies mit günstigeren Bodenpreisen und tieferen Löhnen zu tun haben könnte. Ausserdem seien im Limmattal das Zürcher und das Aargauer Wirtschaftsgebiet verschmolzen.
Gerade für sehr rentable Firmen dürfte auch die Steuerbelastung eine Rolle spielen: Der Kanton Zürich ist für juristische Personen vergleichsweise teuer; je nach Ranking landet er auf dem letzten oder zweitletzten Platz aller Kantone; nur Bern ist steuerlich etwa gleich unattraktiv.
Für die Zürcher Handelskammer ist diese hohe Steuerbelastung eine ihrer grössten Sorgen. «Der Kanton Zürich sollte bei den Unternehmenssteuern unbedingt einen Platz im vorderen Drittel anstreben, um wieder konkurrenzfähig zu werden», sagt Raphaël Tschanz, der Direktor der ZHK.
Ein Tabu sind Steuersenkungen für Unternehmen für den Zürcher Regierungsrat nicht: Er hat vorgeschlagen, die Gewinnsteuer zu reduzieren, von 7 auf 6 Prozent. Gleichzeitig will er aber einen Steuerrabatt für Firmeninhaber zurückfahren, was weder bei den Wirtschaftsverbänden noch bei den bürgerlichen Parteien gut ankommt.
Raphaël Tschanz sagt, dass er eine fundamentale Bereitschaft zur Verbesserung bei den kantonalen Verantwortlichen nicht ausmache. «Der Regierungsrat betont immer, wie attraktiv Zürich als Standort bereits sei und dass deshalb keine Korrekturen notwendig seien. Doch das stimmt gerade bei den Unternehmen überhaupt nicht.»
Die Regierung habe frühere Studien zu Bewegungen von Unternehmen immer relativiert, sagt Tschanz. «Doch diese neue Auswertung zeigt, dass es einen eindeutigen Trend gibt. Der Regierungsrat sollte sich fragen, was das für die Zürcher Volkswirtschaft heisst.» Jeder Abgang eines Unternehmens bedeute, dass ein anderer Standort gestärkt und der eigene geschwächt werde.
Und mit weiteren Abwanderungen ist zu rechnen. In einer Umfrage der Zürcher Handelskammer unter ihren Mitgliedern hat jedes fünfte Unternehmen angegeben, einen Umzug in einen anderen Kanton in Betracht zu ziehen – und zwar aus steuerlichen Gründen.
Zeno Geisseler, «Neue Zürcher Zeitung»