Ein Nein zum Stromgesetz würde die Schweiz um Jahre zurückwerfen Mit dem Mantelerlass wird die Subventionspolitik fortgesetzt. Das ist unschön. Will die Schweiz jedoch eine sichere Stromversorgung gewährleisten, braucht es das Gesetz.

Mit dem Mantelerlass wird die Subventionspolitik fortgesetzt. Das ist unschön. Will die Schweiz jedoch eine sichere Stromversorgung gewährleisten, braucht es das Gesetz.

Gehen die verbliebenen Kernkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten vom Netz, klafft eine riesige Stromlücke – diese gilt es zu schliessen. (Foto: Karin Hofer / NZZ)

Nicht viel mehr als ein Jahr ist es her, seit der Bundesrat eindringlich vor einer möglichen Strommangellage warnte – und nun ist plötzlich alles anders. In diesem Winter hat die Schweiz mehr Strom exportiert als importiert. In den vergangenen 20 Jahren gab es das nur gerade zwei Mal.

Ist die Schweiz beim Strom besser unterwegs, als uns viele Kritiker weismachen wollen? Waren die Warnungen der Behörden vor kalten Wohnungen und einer Mangellage übertrieben? Mitnichten. Die unerwarteten Überschüsse sind vielmehr besonderen Umständen zu verdanken: Der vergangene Winter war der mildeste seit Messbeginn. Dazu war er sehr nass. Entsprechend gut waren die Stauseen gefüllt – und die Stromnachfrage war tief, so dass es sich die Schweiz leisten konnte, einen Teil des Stroms zu exportieren.

Blickt man etwas weiter in die Zukunft, sieht die Situation deutlich weniger rosig aus. Denn auch wenn das Worst-Case-Szenario mit einer Mangellage nicht mehr unmittelbar droht, bleiben die Herausforderungen bei der Versorgung enorm. Will die Schweiz von Öl, Gas und Kohle wegkommen, muss sie das gesamte Energiesystem elektrifizieren. Entsprechend stark wird die Nachfrage ansteigen. Elektroautos und Wärmepumpen verbreiten sich immer mehr – und der Strom, den sie brauchen, muss irgendwo produziert werden. Hinzu kommt, dass sich die Schweizer Stimmbevölkerung 2017 für den Ausstieg aus der Kernkraft ausgesprochen hat. Gehen die verbliebenen Reaktoren in den nächsten Jahrzehnten vom Netz, klafft bald eine riesige Stromlücke. Und die gilt es zu schliessen.

Die Schweiz kann sich nicht darauf verlassen, dass sie alle vier bestehenden Kernkraftwerke länger laufen lassen kann. Die beiden Reaktoren in Beznau gehören zu den ältesten der Welt. Ob sie über das Jahr 2030 hinaus betrieben werden können, ist unter Fachleuten umstritten.

Will die Schweiz unter diesen Vorzeichen langfristig eine sichere Versorgung mit Strom gewährleisten, kommt sie deshalb um einen massiven Ausbau der Infrastruktur nicht herum. Das Stromgesetz, über das wir am 9. Juni abstimmen, ist nicht die Lösung aller Probleme, bietet dazu aber eine Grundlage. Die Vorlage beseitigt zumindest einen Teil der Hindernisse, die den Ausbau der erneuerbaren Energien in der Vergangenheit verzögert haben. Und sie korrigiert einige der Fehler der Energiestrategie von Alt-Bundesrätin Doris Leuthard.

Unschön bleibt allerdings, dass mit dem Gesetz die Subventionspolitik fortgesetzt wird, die das Stimmvolk 2017 durch Annahme der ersten Etappe ursprünglich mit einem Ablaufdatum versehen hatte. Gemäss diesen Plänen hätte das Fördersystem nach der ersten Etappe in ein umfassendes Lenkungssystem umgewandelt werden sollen. Dass dafür der politische Wille fehlt, ist zu bedauern. Denn damit könnten die Energieziele viel effizien­ter – und ohne Verbote und Gebote – erreicht wer­den.

Ein Booster für die Wasserkraft

Vom neuen Stromgesetz profitieren würde vor allem die Wasserkraft. Im vergangenen Jahrhundert war die Schweiz stolze Pionierin der Hydro-Energie. Die in schwindelnde Höhen wachsenden Staumauern schufen einen Schweizer Mythos. Nun bietet sich die Chance, die gigantischen Energiespeicher in den Bergen zu erweitern – und dafür zu sorgen, dass die Wasserkraft weiterhin eine der tragenden Säulen der Schweizer Stromproduktion bleibt.

Mit der Vorlage werden 16 Ausbauprojekte, auf die sich Kantone, Stromversorger und Umweltverbände an einem runden Tisch geeinigt haben, gesetzlich priorisiert. Das ist zwar staatsrechtlich unüblich, doch die Vorteile liegen auf der Hand: In der Güterabwägung erhält das nationale Interesse an der Realisierung dieser Anlagen gegenüber anderen Interessen den Vorrang. Damit wird es für die Umweltverbände schwieriger, den Bau dieser Anlagen zu verhindern. Nach einer jahrzehntelangen Blockade rückt ein Ausbau der Wasserkraft damit in greifbare Nähe.

Mit der Realisierung dieser Projekte würde vor allem die Versorgungssituation im Winter verbessert. Denn mit den 13 Staumauererhöhungen und den drei Neubauten können grössere Wassermengen für die kalte Jahreszeit zurückbehalten werden. Insbesondere nach einem Ausstieg aus der Kernenergie kann damit das Risiko eines Engpasses beim Strom verringert werden. Umso schwieriger ist nachzuvollziehen, dass ausgerechnet die SVP zusammen mit radikalen Umweltschützern eine Vorlage bekämpft, die dem Bau von Grosskraftwerken endlich zum Durchbruch verhelfen könnte.

Ihre Kritik, dass mit dem Stromgesetz Natur und Landschaft verschandelt werde, ist überzogen. Rund 80 Prozent der zusätzlichen erneuerbaren Energie wird auf Infrastrukturen gebaut, auf Dächer und Lagerhallen oder entlang von Parkplätzen. Letztlich müssten wohl nicht mehr als 300 bis 500 Windräder gebaut werden, um die Energieziele des Bundes zu erreichen – und keineswegs 9000, wie die SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher unlängst behauptete. Auch werden die Mitspracherechte beim Bau von Wind- und Solarparks entgegen der Behauptung der Partei nicht eingeschränkt.

Kein Raubbau an der Natur

Ebenso bleiben ökologisch und landwirtschaftlich wertvolle Gebiete unangetastet und der Bau von Kraftwerken in geschützten Biotopen tabu. Einzige Ausnahme bilden Gebiete, wo sich Gletscher zurückgezogen haben. Es handelt sich dabei meist um Geröllwüsten; liegen ein paar davon künftig unter Wasser, hält sich der ökologische Schaden in Grenzen.

Hinzu kommt, dass der Bau von Wasserkraftwerken künftig koordiniert geschehen soll: Bau und Planung von Solar- und Windparks etwa sollen nur in Gebieten erleichtert werden, die für die Stromproduktion besonders geeignet sind. Das Stromgesetz korrigiert damit die Fehler, welche das Parlament im Herbst 2022 mit dem Solarexpress beging. Mit dem überstürzt beschlossenen Gesetz erhalten nicht die ergiebigsten Anlagen an den besten Standorten die grosszügigen Subventionen, sondern jene, die am schnellsten realisiert werden. Die Quittung für diese Wildwestpolitik folgte auf dem Fuss: Die lokale Bevölkerung verwarf zuletzt einen grossen Teil der aufgegleisten Solarprojekte.

Dank diesen Vereinfachungen in der Planung sowie diversen weiteren Anreizen wird der Ausbau der erneuerbaren Energien durch das Stromgesetz zweifellos Fahrt aufnehmen. Ob damit allerdings genug erneuerbare Energie produziert werden kann, um die fossile und nukleare Energie zu ersetzen, ist fraglich. Die im Gesetz verankerten Ziele sind überaus ambitioniert: Bis 2035 etwa muss gemäss Fahrplan die Produktion von Sonnen- und Windenergie, Biomasse und Geothermie versechsfacht werden.

Einiges deutet darauf hin, dass die erneuerbaren Energien am Schluss weniger liefern werden als von der Politik veranschlagt. Zwar hat die Energiewende im Kleinen in den letzten Jahren an Dynamik gewonnen. Davon zeugen die vielen Solarpanels auf den Dächern von Bauernhöfen, Lagerhallen und Einfamilienhäusern. Doch auch mit dem Stromgesetz dürfte der Bau grosser Kraftwerke – also neue Staudämme, Solar- und Windparks – mit Einsprachen weiterhin über Jahre verzögert werden können.

Es wird deshalb weitere politische Anstrengungen brauchen, damit die inländische Stromproduktion den nötigen Schub erhält. In einem nächsten Schritt müssen die vielteiligen Bewilligungsverfahren gestrafft werden. Nicht länger sollen Umweltverbände mehr gegen jede einzelne Etappe Beschwerde bis hinauf zum Bundesgericht einreichen können, was den Bau von Windparks oder Staudämmen sprichwörtlich zu einem Generationenprojekt macht.

Kein Ausstieg aus der Kernkraft

Ebenso wichtig ist, dass die Schweiz nicht länger die Tür zur Kerntechnologie zusperrt. Denn auch wenn das Stromgesetz angenommen wird, bleibt die Frage unbeantwortet, ob sich unser Land den Ausstieg aus der Kernenergie überhaupt leisten kann, wenn es seine Klimaziele erreichen und eine sichere Versorgung gewährleisten will. Zeigt sich in den nächsten Jahren, dass der Ausbau der Wasserkraft, die alpinen Solaranlagen und neuen Windparks nicht genug Winterstrom liefern, wird die Schweiz auf diese zuverlässige CO2-freie Stromquelle nicht verzichten können.

Der Fokus sollte dabei in erster Priorität auf dem Weiterbetrieb der Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt liegen, um diese über 60 Jahre hinaus sicher und wirtschaftlich weiterzubetreiben. Ebenso sollte die Schweiz aber auch das bestehende Verbot für den Neubau von Kernkraftwerken aufheben. Erlangt eine neue Generation von Reaktoren Marktreife, sollte sie diese auch anwenden können.

An der Dringlichkeit, die erneuerbaren Energien auszubauen, ändert die Frage nach der Aufhebung des Neubauverbots allerdings nichts. Ein Nein zur Vorlage würde bedeuten, dass die Schweiz beim Bau von neuen Kraftwerken weiterhin nicht vom Fleck kommt und das Risiko einer Mangellage weiter bestehen bleibt. Dies ist ein Szenario, das unbedingt vermieden werden muss.

David Vonplon, «Neue Zürcher Zeitung»

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